4. Erfolgsqualifikationen: Schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) und Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB)
196In den §§ 226, 227 StGB finden sich Erfolgsqualifikationen, die angesichts der angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr Verbrechenscharakter haben. Ihre Prüfung im Rahmen einer Studienarbeit folgt weitgehend den allgemeinen Regeln über Erfolgsqualifikationen.[348] Im Folgenden wird daher nur ein systematischer Überblick geboten und auf die spezifischen Definitionen der Tatbestandsmerkmale eingegangen.
a) § 226 StGB
197§ 226 StGB knüpft eine erhöhte Strafandrohung an schwere Folgen der Körperverletzung. Die Absätze 1 und 2 enthalten zwei unterschiedliche Tatbestände. Abs. 1 normiert eine »normale« Erfolgsqualifikation. Danach wird mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bestraft, wer gem. § 18 StGB mindestens fahrlässig die schwere Folge herbeiführt. Abs. 2 ordnet hingegen an, dass eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren verhängt werden muss, wenn die schwere Folge wissentlich oder absichtlich herbeigeführt wurde. Normalerweise würde also der Abs. 1 iVm. § 18 StGB (»mindestens fahrlässig«) auch die Herbeiführung der schweren Folge mit Vorsatz ersten oder zweiten Grades erfassen. Wegen der spezielleren Regelung des Abs. 2 fallen jedoch unter den Abs. 1 nur die fahrlässige und die bedingt vorsätzliche Herbeiführung der schweren Folge, während Vorsatz ersten und zweiten Grades unter Abs. 2 zu subsumieren ist.
|93|aa) Körperverletzung
198Objektiv setzt § 226 StGB eine Körperverletzung voraus, also eine Tat nach den §§ 223, 224, 225 Abs. 1 Var. 2, 3 StGB. Umstritten ist, ob auch § 225 Abs. 1 Var. 1 StGB (Misshandlung Schutzbefohlener durch Quälen) Grundtatbestand des § 226 StGB sein kann. Das hängt davon ab, ob man auch rein seelische Qualen als tatbestandsmäßig ansieht, da dann keine Körperverletzung im Sinne des § 226 StGB vorliegt (vgl. dazu unten Rn. 221).
bb) Schwere Folge
199Zu der Körperverletzung muss eine bestimmte schwere Folge hinzutreten. Gemeinsam haben die in § 226 Abs. 1 StGB abschließend[349] aufgezählten Folgen, dass sie das Opfer nachhaltig oder endgültig prägen und erheblich in seiner Lebensführung einschränken. Das zeitliche Charakteristikum wirft die Frage auf, ob § 226 StGB zu verneinen ist, wenn die schwere Verletzungsfolge durch medizinische Hilfsmittel oder Eingriffe vollständig oder teilweise behoben werden kann. Nach der neueren Rechtsprechung ist der Qualifikationstatbestand jedenfalls ausgeschlossen, wenn eine Heilung eingetreten ist, und zwar auch dann »wenn sie auf [einem] operative[n] Eingriff beruht. Denn nicht die schwere Folge, sondern nur die dauerhafte schwere Folge erfüllt den Tatbestand des § 226 StGB. Dass eine Heilung beachtlich ist, kann letztlich keinem Zweifel unterliegen, weil auch rettende Eingriffe Dritter den Täter begünstigen können.«[350] Dies soll aber nicht gelten, wenn die körperliche Einschränkung nur durch zeitweise wirkende, äußere Hilfsmittel ausgeglichen wird: »Für § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist anerkannt, dass Prothesen den Verlust von Gliedmaßen nicht beseitigen […]. Auch für § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird dadurch, dass mittels Brillen und Kontaktlinsen wieder gesehen werden kann, die eingetretene schwere Folge des Verlustes des Sehvermögens nicht aufgehoben. Es werden nur die Auswirkungen des Verlustes gemildert […]. Das Sehvermögen ist in diesen Fällen gerade nicht wiederhergestellt. Der Verletzte muss sich um solche Hilfsmittel laufend kümmern […], sie ersetzen das körperliche Organ nicht.«[351]
200Zumindest operative Eingriffe können folglich dazu führen, dass die schwere Folge behoben und § 226 StGB nicht (mehr) erfüllt ist. Doch wie sind Fälle zu beurteilen, in denen eine Operation zwar möglich ist, der Geschädigte sich einer solchen jedoch nicht unterziehen möchte? Die h. M. verlangt hier eine Prognoseentscheidung des Gerichts: Ist eine erfolgversprechende Operation möglich, ohne dass der Geschädigte ein überdurchschnittliches gesundheitliches Risiko eingehen oder extreme Kosten tragen muss, ist § 226 StGB zu |94|verneinen – unabhängig davon, ob der entsprechende Heileingriff tatsächlich vorgenommen wird oder nicht.[352]
201In Nr. 1 wird der Verlust des Seh-, Hör- und Sprechvermögens sowie der Fortpflanzungsfähigkeit erfasst. Unter den Begriff »Verlust« wird nicht nur die hundertprozentige Minderung der Fähigkeit subsumiert, sondern auch jede Verschlechterung auf wenige Prozent.[353] Beim Sehsinn genügt nach dem Wortlaut der Norm bereits der Verlust der Sehfähigkeit auf einem Auge, wohingegen der Hörsinn auf beiden Ohren verloren sein muss, da die Norm von »dem Gehör« als Ganzem spricht.[354]
202In Nr. 2 wird der Verlust eines wichtigen Glieds des Körpers oder die dauernde Unbrauchbarkeit eines wichtigen Glieds des Körpers als schwere Folge normiert. »Glied des Körpers ist ein nach außen in Erscheinung tretender Körperteil, der mit dem Körper oder einem anderen Körperteil verbunden ist.«[355]Organe als innere Körperteile fallen folglich nicht unter diesen Begriff.[356] Umstritten ist, ob das Wort Glied voraussetzt, dass der entsprechende Körperteil durch ein Gelenk mit dem Körper verbunden ist.[357] Bejaht man dies, fallen nur bewegliche Teile wie Arme, Beine und Finger unter § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Die Gegenauffassung will stattdessen darunter alle Körperteile fassen, die in sich abgeschlossen sind und eine besondere Funktion für den Gesamtorganismus erfüllen.[358] Dagegen spricht jedoch, dass dies den Wortlaut der Norm überschreitet und die sonstigen Begehungsvarianten, insbesondere die dauerhafte Entstellung, überflüssig machen würde.[359]
203Ein Glied im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist wichtig, »wenn es für den Gesamtorganismus eine besondere Funktion erfüllt.«[360] Aber aus welcher Perspektive ist dies zu entscheiden? Eine objektiv-generelle Bestimmung, wie sie das Reichsgericht in seiner Rechtsprechung vorgenommen hat, würde bedeuten, dass man unabhängig vom konkret betroffenen Körper sagen könnte, welche Körperteile wichtig im Sinne des § 226 StGB sind.[361] Es kommt aber auch eine soziale Betrachtung in Frage, die miteinbezieht, wie die konkrete Person ihren Körper nutzt.[362] Danach würde es einen Unterschied machen, ob jemand das verlorene Körperteil zur Ausübung seines Berufs braucht oder nicht. Der BGH hat sich zu Recht für die Einbeziehung individueller Eigenschaften des Betroffenen entschieden: »§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein konkretes |95|Verletzungsdelikt, dessen Erfolg auch von der jeweiligen körperlichen Beschaffenheit des Tatopfers abhängt. So hat ein Finger der linken Hand naturgemäß für einen Linkshänder eine größere Bedeutung als für einen Rechtshänder. Für einen Menschen ohne Hände, etwa infolge einer körperlichen Behinderung, der gelernt hat, seine Zehen als Fingerersatz einzusetzen, sind diese Zehen für das Hantieren ebenso wichtig wie die Finger für einen nicht behinderten Menschen […]. Solche dauerhaften körperlichen Besonderheiten eines Tatopfers bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Wichtigkeit eines Körperglieds […] gänzlich außer Acht zu lassen, widerspräche dem heutigen Verständnis eines gleichberechtigten Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher körperlicher Beschaffenheit.«[363]
204Ob ein Glied durch die Tat dauerhaft unbrauchbar geworden ist, hängt davon ab, »ob als Folge der vorsätzlichen Körperverletzung so viele Funktionen ausgefallen sind, dass das Körperglied