165Der dritte Strafsenat hat auf dieser Grundlage das Merkmal der Sittenwidrigkeit weiter systematisiert: »Gesellschaftliche Vorstellungen oder der durch die Tat verfolgte Zweck können lediglich dazu führen, dass ihretwegen eine Einwilligung trotz massiver Rechtsgutsverletzungen Wirksamkeit entfalten kann, wie dies etwa in Fällen des ärztlichen Heileingriffs angenommen wird […] oder auch bei Kampfsportarten der Fall ist, die direkt auf die körperliche Misshandlung des Gegners ausgelegt sind und bei denen die ausgetragenen Kämpfe zu schwersten Verletzungen oder Gesundheitsschädigungen, ja selbst zum Tod der Kontrahenten führen können […]. Zur Feststellung eines Sittenverstoßes und damit – über die Unbeachtlichkeit der Einwilligung – zur Begründung der Strafbarkeit von einvernehmlich vorgenommenen Körperverletzungen können sie hingegen nicht herangezogen werden.«[278] Mit Verweis auf die »billig und gerecht Denkenden« kann also heute nur die Wirksamkeit einer Einwilligung (und damit die Straflosigkeit) und nicht deren Unwirksamkeit (und damit die Strafbarkeit) begründet werden.
166(3) Exkurs: Ärztliche Heileingriffe: Eines der Hauptanwendungsfelder des § 228 StGB sind in der Praxis die ärztlichen Heileingriffe. Ungeachtet der in der Literatur bestehenden Kritik werden diese von der Rechtsprechung als tatbestandsmäßige Körperverletzungen angesehen.[279] Gegen diese Position wird u.a. eingewandt, dass der soziale Sinngehalt einer ärztlichen Heilbehandlung das Gegenteil einer Körperverletzung sei. Sie diene nicht dazu, den Körper zu schädigen, sondern Schäden zu beheben. Es bedürfe daher bei aus ärztlicher |78|Sicht erforderlichen und kunstgerecht ausführten Eingriffen bereits eines Ausschlusses auf Tatbestandsebene.[280] Die Rechtsprechung führt dagegen mit guten Gründen den Gedanken ins Feld, dass man ärztliche Heileingriffe nicht anhand ihrer objektiven Geeignetheit zur Heilung als rechtlich unbedenklich einstufen könne. Entscheidend sei vielmehr der Wille des Patienten: »Das in Art 2 Abs. 2 Satz 1GG gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert auch bei einem Menschen Berücksichtigung, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich. Zwar ist es sein vornehmstes Recht und seine wesentlichste Pflicht, den kranken Menschen nach Möglichkeit von seinem Leiden zu heilen. Dieses Recht und diese Pflicht finden aber in dem grundsätzlichen freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper ihre Grenze. Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – und sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen – eigenmächtig und selbstherrlich eine folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung rechtzeitig eingeholt werden kann, ohne dessen vorherige Billigung vornähme. Denn ein selbst lebensgefährlich Kranker kann triftige und sowohl menschlich wie sittlich achtenswerte Gründe haben, eine Operation abzulehnen, auch wenn er durch sie und nur durch sie von seinem Leiden befreit werden könnte […].«[281] Demnach ist ein ärztlicher Eingriff nach Ansicht der Rechtsprechung grundsätzlich nur dann keine Körperverletzung, wenn er vom Willen des Patienten gedeckt ist.[282] Die Frage der Einwilligung ist jedoch gem. § 228 StGB erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zu prüfen. Jede Spritze, die ein Arzt verabreicht, und jeder im Rahmen einer Operation ausgeführte Schnitt mit dem Skalpell erfüllt deshalb zunächst den Tatbestand des § 223 StGB. Die Rechtswidrigkeit entfällt jedoch, wenn der Patient gem. § 228 StGB in die Behandlung eingewilligt hat. Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt |79|voraus, dass der Patient korrekt und vollständig aufgeklärt wurde und einwilligungsfähig ist.[283]
167Gerade in der Notfallmedizin gibt es allerdings viele Situationen, in denen ein Patient nicht einwilligen kann, etwa weil er bewusstlos ist. Wenn eine Operation dennoch dringend erforderlich ist, wird der Eingriff unter bestimmten Voraussetzungen über den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt. Gleiches gilt, wenn sich im Laufe einer Operation weiterer Handlungsbedarf zeigt (»Operationserweiterung«). Die Rechtsfigur der mutmaßlichen Einwilligung wird jedoch ebenso wie die sog. hypothetische Einwilligung[284] nicht als Unterfall des § 228 StGB angesehen. Beide gelten als jeweils eigenständige gewohnheitsrechtlich anerkannte ungeschriebene Rechtfertigungsgründe.[285]
168(4) Exkurs: Sportverletzungen und verabredete Schlägereien: Bei der Ausübung bestimmter Sportarten ist es regelmäßig vorhersehbar oder – wie etwa bei Kampfsportarten – sogar beabsichtigt, dass es zu Körperverletzungen kommt.[286] Diese mutwillige, massenhafte Verwirklichung des § 223 StGB wird nach der herrschenden Meinung durch die Sozialadäquanz des Sports ausgeglichen, so dass eine Rechtfertigung gem. § 228 StGB auch bei der Gefahr schwerer Körperverletzungen nicht grundsätzlich wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten ausgeschlossen ist.[287] Fraglich ist jedoch, ob die durch die Teilnahme am sportlichen Spiel oder Wettkampf zumindest konkludent vorliegende Einwilligung der Sportler in das Risiko einer Körperverletzung auch regelwidrig zugefügte Körperverletzungen einschließt (z.B. durch eine sog. Blutgrätsche beim Fußball[288]). Die wohl h. M. geht davon aus, dass jedenfalls fahrlässige Regelverletzungen von der Einwilligung erfasst werden und somit ebenfalls straflos sind.[289] Das bedeutet im Umkehrschluss, dass etwa taktische Fouls, die bewusst und zielgerichtet ausgeführt werden, strafbar sind, wenn sie zur Verletzung eines Mitspielers führen.[290] Dass dies in der Praxis üblicherweise nicht verfolgt wird, liegt an dem mangelnden Interesse der Beteiligten.
169|80|Ob überhaupt eine sportliche Auseinandersetzung vorliegt, ist nicht immer leicht zu bestimmen. Bei herkömmlichen Sportarten wie Fußball oder Boxen gibt es keine Probleme. Wie steht es aber etwa mit sog. Drittortauseinandersetzungen von Hooligans? Darunter wird das Phänomen gefasst, dass Hooligans angesichts der verschärften Sicherheitsvorkehrungen in den Stadien ihre Kämpfe an andere (»dritte«) Orte verlegen, wo sie ungestört sind. Dort treffen dann Anhänger verschiedener Mannschaften aufeinander und prügeln sich aus Freude an der körperlichen Gewalt. Dabei gelten bestimmte Regeln, etwa dass am Boden liegende Teilnehmer in Ruhe gelassen werden. Die Einhaltung der Regeln wird von »Schiedsrichtern« beider Gruppen überwacht.[291] Es stellt sich die Frage, ob auf diese Kämpfe, die für herkömmliche Sportarten entwickelten Einwilligungsmaßstäbe übertragbar sind. Die Rechtsprechung hatte in vergleichbaren Fällen, in denen Personen einvernehmlich einen Konflikt durch einen Faustkampf o.ä. klären wollten (»Duell«), verlangt, dass für eine Einwilligungsfähigkeit gewisse Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden sein müssen[292] und dass die Chancen der Beteiligten nicht in einem krassen Ungleichverhältnis stehen dürfen.[293] Der BGH hatte sich außerdem mit einem Fall beschäftigt, in dem sich zwei Gruppen Jugendlicher, die in Streit geraten waren, einvernehmlich zu einer Schlägerei verabredeten. Er ging davon aus, dass eine Einwilligung zwar vorlag, diese aber keine rechtfertigende Wirkung entfalte, da sie gegen die guten Sitten verstoße. Dafür sei nicht »in erster Linie das Gefährlichkeitspotenzial der einzelnen Körperverletzungshandlung, sondern die Gesamtumstände, unter denen diese verübt worden sind«[294] entscheidend. Auch wenn die einzelne Körperverletzungshandlung nicht lebensgefährdend sei, könne »das Fehlen jeglicher Absprachen und Vorkehrungen, die eine Eskalation der wechselseitigen Körperverletzungshandlungen und damit einhergehend eine beträchtliche Erhöhung der aus diesen resultierenden Rechtsgutsgefährlichkeit ausschließen«,[295] eine Sittenwidrigkeit begründen. Es kommt danach also auf das gruppendynamische Eskalationsrisiko an, dem nicht durch vorab vereinbarte Regeln und Mechanismen, die deren Einhaltung gewährleisten, entgegengewirkt wurde.
170Das OLG München übertrug diese Differenzierungen des BGH erstmals auf einen »Fußball-Fall«. Es ging um eine Auseinandersetzung zwischen »Ultras« zweier Münchener Fußballvereine. Sie hatten sich in unmittelbarer Nähe des Stadions geprügelt. Das OLG bejahte trotz allseitiger Einwilligung in die Schlägerei die Strafbarkeit: »Die teilnehmenden Personen haben zwar im Vorhinein vereinbart, dass sie sich gegenseitig keine erheblichen Körperverletzungen zufügen werden, jedoch haben sie in keiner Weise vorab sichergestellt, dass die |81|zwischen ihnen vereinbarten Regeln auch tatsächlich eingehalten werden. Eine konkrete Eskalationsgefahr ergab sich darüber hinaus aus der hohen Anzahl von teilnehmenden Personen