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Das Besondere an den Gebieten, die heute wie auch das Kartellrecht im Rahmen der Umsetzung im Unternehmen mit dem Begriff „Compliance“ belegt werden, ist also wohl, dass sie neben der bloßen Einhaltung von Rechtsvorschriften eine unternehmensinterne auf dieses Ziel ausgerichtete Organisation verlangen.5 Compliance betrifft also die Verhaltenssteuerung von Personen im Hinblick auf das Einhalten von Rechtsvorschriften, und dies dann umfassend, also mit allem, was dazugehört. Der Gesetzgeber hat Compliance im Rahmen der 10. GWB-Novelle in § 81d Abs. 1 S. 2 Nrn. 4 und 5 GWB als „Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen“ definiert. Etwas wissenschaftlicher hört sich das so an: „Der Begriff der Kartellrechts-Compliance kann heute ... als ... Oberbegriff für sämtliche Wertentscheidungen, Prinzipien, Vorgaben und Prozesse im Unternehmen verstanden werden, die dem Ziel eines systematischen, unternehmensweit integrierten Kartellrechts-Risikomanagements dienen.“6
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Kartellrechts-Compliance ist wichtig für alle Unternehmen, ungeachtet der Frage, welche Größe das Unternehmen aufweist, welcher Branche es angehört und ob es regional oder international tätig ist. Der Gesetzgeber erkennt jetzt in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB an, dass die Compliance-Anforderungen „angemessen“ sein, d.h. den unternehmensspezifischen Anforderungen entsprechen müssen.7 Der internationale Großkonzern steht für den Aufbau einer Compliance-Organisation schon rein logistisch vor anderen Herausforderungen als ein regionaler Mittelständler, dennoch haben beide Unternehmen die gleichen Grundaufgaben zu bewältigen, die sich auf drei Kernpunkte herunterbrechen lassen: Wie lässt sich in der konkreten Unternehmensstruktur sicherstellen, dass kartellrechtliche Verstöße (i) identifiziert, (ii) abgestellt und (iii) für die Zukunft verhindert werden können? Wenn diese Frage erfolgreich beantwortet wird, ist das Unternehmen weitgehend gegen hohe Bußgelder gesichert: Entweder werden Zuwiderhandlungen im Vorhinein verhindert oder sie werden zumindest so frühzeitig entdeckt – etwa durch einen Compliance-Audit –, dass sie nicht erst im Rahmen von kartellrechtbehördlichen Ermittlungen aufgedeckt werden. Das ist der Bereich der Compliance-Defense, mit dem dieses Buch beginnt (Teil A).
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Dieses Buch bietet praktische Hilfestellung bei der Bewältigung der Aufgabe, ein angemessenes und wirksames Compliance-System aufzubauen. Es richtet sich damit an alle, die sich intern im Unternehmen oder extern für ein Unternehmen damit befassen, Strukturen, Richtlinien und Prozesse zu schaffen, um die Einhaltung kartellrechtlicher Regeln dauerhaft sicherzustellen und zu überprüfen.
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Dieses Buch ist kein Kartellrechts-Handbuch. Materielle kartellrechtliche Vorschriften werden insoweit und nur unter dem Aspekt angesprochen, wie es für Zwecke der Identifizierung kartellrechtlicher Risiken und der Schaffung und Aufrechterhaltung kartellrechtlicher Compliance-Strukturen im Unternehmen notwendig ist. Diese Analyse der im Unternehmen konkret vorhandenen kartellrechtlichen Risiken ist der erste und grundlegende Schritt eines erfolgreichen Compliance-Programms. Je nachdem, welche Geschäftspraktiken ein Unternehmen verfolgt, kann die Darstellung des Kartellrechts in Teil B des Buches eine vertiefte Auseinandersetzung mit einzelnen kartellrechtlichen Normen im Zuge der Compliance-Arbeit jedoch nicht ersetzen.
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Nach den Grundlagen für die Risikoanalyse folgen dann im dritten Teil (Teil C) des Handbuches aus Anwendersicht geschriebene Ausführungen dazu, wie Kartellrechts-Compliance im Unternehmen praktisch sichergestellt und umgesetzt werden kann.
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Und schließlich kann es auch bei einem perfekten Compliance-Programm passieren, dass etwas schiefgeht, also die „Kartellrechts-Krise“ eintritt. Wie damit umzugehen ist, erörtern wir im vierten Teil des Buches (Teil D).
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Abgerundet wird das Handbuch durch Materialien (Teil E), die den Einstieg erleichtern, also besonders bei der erstmaligen Befassung mit der Materie hilfreich sein sollen.
1 Und viele andere Bedeutungen mehr, siehe www.leo.org. 2 Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 116. 3 Siehe hierzu die Zitate von Kasten, in: Mäger, Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl. 2011, 2. Kap. Rn. 2. 4 Dieser Grundsatz der Verantwortlichkeit für eigenes Verhalten gilt – unabhängig davon, ob man die einzuhaltenden Regeln kannte – nicht nur im Straßen-, sondern auch im Geschäftsverkehr: Wer am Wirtschaftsleben teilnimmt, wer auf Märkten operiert, kann sich nicht hinterher seiner Verantwortlichkeit dadurch entziehen, dass er darauf verweist, er habe bestimmte Vorschriften nicht gekannt. Er hätte sie kennen können und müssen. 5 Kremer/Klahold, ZGR 2010, 113, 117, sehen darin die Übernahme eines amerikanischen Rechtsmodells, dessen unreflektierte Übernahme in die deutsche Unternehmenskultur nur bedingt gelingen könne. 6 Kasten, in: Mäger, Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl. 2011, 2. Kap. Rn. 3 a.E.; Hervorhebung durch die Verfasser. 7 Siehe sogleich zur Compliance-Defense Rn. A 1ff.
Teil A Die Compliance-Defense
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Nachdem im wahrsten Sinne des Wortes jahrzehntelang darum gekämpft wurde, ist die sog. „Compliance-Defense“ im Bußgeldverfahren im Rahmen der 10. GWB-Novelle („GWB-Digitalisierungsgesetz“)1 mit Wirkung zum 19.1.2021 nun vollständig in das Gesetz geschrieben worden. Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße, die gegen Unternehmen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot (§ 1 GWB, Art. 101 AEUV) oder das Missbrauchsverbot (§§ 19–21 GWB, Art. 102 AEUV) festgesetzt werden, kommen jetzt nach § 81d Abs. 1 S. 2 GWB als abzuwägende Umstände insbesondere auch in Betracht:
„4. ... vor der Zuwiderhandlung getroffene, angemessene und wirksame Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen und
5. ... nach der Zuwiderhandlung getroffene Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen.“ [Hervorhebungen hinzugefügt]
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Insbesondere die neue Regelung in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB – das ist die eigentliche Compliance-Defense – ist gegenüber der 1. Auflage ein Grund mehr, in dieses Compliance-Handbuch Kartellrecht nicht nur hineinzuschauen, sondern es auch durchzuarbeiten und die in ihm enthaltenen Empfehlungen umzusetzen. Die jetzt ausdrücklich in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 5 GWB aufgenommene Regelung zur Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen nach Tatbegehung wurde dagegen schon vor der 10. GWB-Novelle in Ordnungswidrigkeitenverfahren im Rahmen des positiven Nachtatverhaltens berücksichtigt; die Bestimmung ändert also nichts, sie hat nur klarstellende Funktion.
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Dieses Handbuch fokussiert sich zwar nicht auf die Verteidigung im Bußgeldverfahren des Bundeskartellamtes2, schafft aber für den Anwender des hierin dargestellten Standes der Compliance-Technik die Voraussetzungen, dass ihm die Vorteile der Compliance-Defense im Falle eines Falles zugutekommen. Dadurch lassen sich Ausgaben für Compliance zukünftig besser rechtfertigen3,