6. Kommerzielle Risiken durch Reputationsverlust, Kundenreaktionen, langwierige Untersuchungen, personelle Konsequenzen
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Kartellrechtsverstöße ziehen nicht nur Risiken aus unmittelbaren Rechtsfolgen nach sich, sondern führen auch zu einer Reihe weiterer kommerzieller Risiken, die erheblichen Einfluss auf das weitere Schicksal des Unternehmens haben können.
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Investoren und Anlegern sind die Konsequenzen des ungünstigen Ausgangs eines Verfahrens durch die Kartellbehörden gut bekannt. Muss ein Unternehmen einräumen, Beteiligter in einem Kartell- oder Missbrauchsverfahren zu sein, hat dies insbesondere bei börsennotierten Unternehmen regelmäßig einen unmittelbaren Einfluss auf den Unternehmenswert. Dies gilt meist schon dann, wenn die Einleitung eines Verfahrens bekannt wird, obgleich dessen Ausgang offen ist. Die Eröffnung eines kartellrechtlichen Verfahrens hat zudem einen erheblichen Einfluss auf anstehende Transaktionen. Ein Erwerber wird sich nur dann zum Kauf eines am Kartellverfahren beteiligten Unternehmens entschließen, wenn er meint, die kartellrechtlichen Risiken abschätzen und in Form des Kaufpreises oder der Vertragsverhandlungen kompensieren zu können.
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Reputationsverlust und schlechte Presse nach Eröffnung eines Kartellverfahrens wirken sich regelmäßig auch auf die Kundenbeziehungen aus. Unternehmen müssen in Jahresgesprächen schon weit vor Abschluss eines Kartellverfahrens erleben, dass sie für ihr vermeintliches Fehlverhalten von Kunden zur Rechenschaft gezogen werden. Aus Unternehmenssicht positiv ist, dass sich durch ein finanzielles Entgegenkommen gegenüber Kunden Schadensersatzklagen ggf. vermeiden lassen.
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In Ausschreibungsmärkten bedeutet ein Kartellrechtsverstoß gemäß § 124 GWB einen fakultativen Ausschluss eines Unternehmens von weiteren Ausschreibungen. Die Registrierung derartiger Verstöße wird durch das vom Bundeskartellamt geführte Wettbewerbsregister nunmehr formalisiert.99 Eine vorzeitige Löschung des Eintrags ins Wettbewerbsregister ist durch Selbstreinigung möglich. Damit wird eine Situation gesetzlich verankert, die bereits in der Vergangenheit in Verfahren vor dem Bundeskartellamt auf Märkten eine Rolle gespielt hat, in denen die öffentliche Hand als Kunde auftritt.100 Wie unter Rn. C 111ff. dargestellt, bietet ein solcher Nachweis z.B. über ein Zertifizierungsverfahren auch eine Chance für Unternehmen, ihre Compliance-Maßnahmen pro-aktiv bei Kunden zu nutzen.
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Unternehmen, gegen die ein kartellrechtliches Verfahren eröffnet ist, dürfen nicht unterschätzen, dass die Aufarbeitung des Sachverhaltes und Verteidigung in einem solchen Verfahren langwierig ist und erhebliche Zeit der Geschäftsführung, der Rechtsabteilung und ggf. anderer leitender Mitarbeiter bindet. Hinzu kommen Kosten externer Berater und Zeitverlust infolge von personellen Konsequenzen, die ggf. aufgrund des kartellrechtlichen Fehlverhaltens der betroffenen Mitarbeiter notwendig werden. Diese Konsequenzen mögen sich trivial anhören, sind für ein betroffenes Unternehmen aber regelmäßig die ersten spürbaren kommerziellen Folgen, die ein Kartellrechtsverstoß bzw. dessen Verdacht mit sich bringt.
32 Siehe dazu bereits die Ausführungen in der Einleitung sowie unter Rn. B 17. 33 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Art. 23 Abs. 2 Buchstabe a) der VO Nr. 1/2003, ABl. EU 2006 C 210/02 (Bußgeldleitlinien Kommission). 34 Bußgeldleitlinien Kommission, Rn. 13, 20. 35 Bußgeldleitlinien Kommission, Rn. 24. 36 Bußgeldleitlinien Kommission, Rn. 25. 37 Bußgeldleitlinien Kommission, Rn. 29. 38 Zu den Ländern, in denen Compliance-Programme explizit bußgeldmindernd berücksichtigt werden können, gehört in Europa neben Deutschland z.B. Italien. Außerhalb der EU berücksichtigen dies z.B. die USA, Schweiz sowie Großbritannien. Frankreich, das Compliance-Programme zunächst stark bußgeldmindert berücksichtigt hat, hat diesen Ansatz 2017 explizit aufgegeben. Deutschland hat die Berücksichtigung von Compliance-Programmen erst mit Inkrafttreten der 10. GWB-Novelle zum 19.1.2021 gesetzlich verankert, siehe hierzu ausführlich Rn. A 1ff. Die konkreten Voraussetzungen werden sich durch die Entscheidungen des BKartA erst herausbilden müssen. 39 Siehe ausführlich zu dieser Thematik Steger/Schwabach, WuW 2021, 138, 139f. sowie Brettel/Thomas, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016. 40 Abgerufen am 1.3.2021 unter: https://ec.europa.eu/competition/antitrust/compliance/index_en.html. 41 EGMR, Urt. v. 27.9.2011, Rs. 43509/08 (Menarini/Italien). 42 EuG, Urt. v. 17.2.2011, Rs. T-343/08 (Arkema). 43 Komm., Pressemitteilungen v. 19.7.2016, AT. 39824, v. 27.9.2017, AT. 39824. 44 Komm., Pressemitteilungen v. 27.6.2017, AT. 39740 (EUR 2,42 Mrd.); v. 18.7.2018, AT. 40099 (EUR 4,34 Mrd.); v. 20.3.2019, AT. 40441 (EUR 1, 42 Mrd.). 45 Fensterbeschläge: Bußgeld in Höhe von EUR 86 Mio. gegen neun Hersteller, Komm., Pressemitteilung v. 28.3.2012, IP/12/313; Selbstdurchschreibpapier: Bußgeld in Höhe von EUR 313,7 Mio. gegen zehn Unternehmen, Komm., Pressemitteilung v. 21.12.2001, IP/01/1892; Reißverschlüsse: Bußgeld in Höhe von EUR 303 Mio. gegen sieben Unternehmen, Komm., Pressemitteilung v. 19.9.2007, IP/01/1362; Plastikverpackungen für Lebensmittel: Bußgeld in Höhe von EUR 115 Mio. gegen acht Hersteller und zwei Händler, Komm., Pressemitteilung v. 24.6.2015, IP/15/5253. 46 Bußgeld in Höhe von EUR 24 Mio., Komm., Pressemitteilung v. 29.3.2006, IP/06/398. 47 Siehe z.B. Bußgelder wegen Exportbeschränkungen in Höhe von EUR 35 Mio. gegen Opel Nederlands, Komm., Entsch. v. 20.9.2000, Rs. COMP/36.653, ABl. EU 2001 L 59/1 bestätigt vom EuGH, Urt. v. 6.4.2006, Rs. C-551/03 P, Slg. 2006, I-3173; Bußgeld in Höhe von EUR 102 Mio. gegen VW, Komm., Entsch. v. 28.1.1998, Rs. IV/35.733, ABl. EU 1998 L 124/60 (VW), weitgehend bestätigt vom EuG, Urt. v. 6.7.2000, Rs. T-62/98, Slg. 2000, II-2707, Rn. 162ff., bestätigt durch den EuGH, Urt. v. 18.9.2003, Rs. C-338/00, Slg. 2003, I-9189; Bußgeld wegen Exportbeschränkungen in Höhe von EUR 149 Mio. gegen Nintendo, Komm., Entsch. v 30.10.2002, ABl. EG 2003 L 255/33, vom Gericht reduziert auf EUR 119 Mio., EuG, Urt. v. 30.4.2009, Rs. T-18/03, Slg. 2009 II-975. 48 Siehe z.B. das Bußgeld von insgesamt EUR 111 Mio. gegen vier Elektronikkonzerne wegen Preisbindung, Komm., Entsch. v. 24.7.2018 AT. 40465 (Asus), AT. 40469 (Denon und Marantz), AT. 40181 (Philips), AT. 40182 (Pioneer); EUR 40 Mio. gegen den italienischen Bekleidungshersteller Guess, Komm., Entsch. v. 17.12.2018, AT. 40468 (Guess); EUR 12,5 Mio. gegen Sportartikelhersteller Nike, Komm., Entsch. v. 25.3.2019, AT. 40436 (Nike). 49 § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 8 EStG.