Rabenflüstern. Philipp Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Schmidt
Издательство: Автор
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Год издания: 0
isbn: 9783957770035
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wieder durch ihre Hände gleiten zu lassen, bis kleine Locken entstanden.

      Alles war wie jeden Morgen, alles war gut. Der alte Mann schmunzelte.

      »Ihr seid gekommen, eine Geschichte zu hören?«, fragte er in alter Tradition.

      »Jaaa«, antwortete der Kanon.

      »Nun gut«, sagte er und räusperte sich, »ich erzähle euch die Geschichte von Lars und wie er den Bären von Hornstein bezwang …«

      »Nein!«, unterbrach ihn Fried, der mittlerweile von seinen Sitznachbarn abgelassen hatte.

      »Wir wollen viel lieber von der Kriegskrähe und der großen Schlacht gegen die Gorka-Orks hören. Du hast es versprochen, schon letzten Herbst.«

      Einige nickten beipflichtend.

      Für einen kurzen Augenblick schien sich seine Miene zu verfinstern, doch sie hellte sich sofort wieder auf, als er in den Kreis freundlich neugieriger Augenpaare blickte.

      »Ich bin mir nicht sicher, ob einige von euch nicht etwas zu jung dafür sind. Außerdem ist die Gerissenheit von Lars wirklich nicht zu unterschätzen, mit der er schließlich Groll die Pranke überlistete«, versuchte er, sich herauszuwinden.

      »Du hast es aber versprochen, Ohm«, beharrte der Junge trotzig. Da die meisten aufgrund der harten Lebensbedingungen nicht das höhere Alter erreichten und daher kaum eines der Kinder die Möglichkeit gehabt hatte, seine Großeltern kennenzulernen, hatte es sich eingebürgert, ihm jene Rolle zuzuschreiben, doch um ihn nicht zu beleidigen, nannten ihn alle nur den Ohm.

      Ohne Zweifel war der Großteil seiner Zuhörerschaft nicht reif für jene Geschichte, andererseits konnte er sie nicht ewig hinhalten, und ein Jahr mehr oder weniger machte für eine Seele schließlich kaum einen Unterschied.

      Jeder im Dorf kannte das Grab des Helden, von dessen Taten er berichten sollte. Jedes Jahr zum Totenfest wurden Kränze und Blumen unter das schlichte Holzkreuz gelegt und aufgelesene Krähenfedern in die Erde darum gesteckt. Sie hatten ein Recht darauf zu erfahren, wie der Schutzpatron ihrer Heimat gelebt hatte. Ein Recht auch, wie ihm schien, die ganze Geschichte am Stück zu hören und nicht aus dem Zusammenhang gerissene und dadurch verzerrte Ausschnitte.

      Trotz dieser Überlegung zögerte er noch einen Moment, bevor er nachgab.

      »Also gut. Aber ich möchte keine Beschwerden von euren Eltern hören, wenn euch hinterher Albträume plagen.

      Und davon könnt ihr ausgehen«, fügte er unheilvoll hinzu.

      Schmale Hände gruben sich vorsorglich in sein Haar. Frieds Augen leuchteten in gespannter Erwartung.

      ***

      In den überfluteten Auen am östlichen Flussufer des Rheins kämpften sich zwei in Felle und Leder gekleidete Männer einen Weg durch das dichte Unterholz. Ihre Pferde führten sie an den Zügeln. Es wurde bereits Abend und der Führer, den sie in der letzten Siedlung angeheuert hatten, war unauffällig verschwunden, nicht ohne seine volle Bezahlung eingestrichen zu haben.

      Die Stiefel der beiden waren durchnässt, und erbarmungslose Kälte fraß sich nach oben, bis sie ihre Körper gänzlich durchdrungen hatte.

      Der Frühling ließ auf sich warten in diesem Jahr. Noch immer waren Stellen, die vor Lichteinstrahlung verborgen waren, von Raureif bedeckt. Schwäne, die darauf eingestellt waren, das bittere Wetter besser zu ertragen, boten die einzige Abwechslung für die zwei Krieger.

      Der eine sah grimmig aus seinen graublauen Augen auf die eleganten Tiere und spitzte unnatürlich große Ohren, während der andere gähnend einen Schopf schlohweißen Haares in den Nacken warf.

      ***

      »Die Kriegskrähe!«, schrie eines der Kinder, die sich um den Alten versammelt hatten.

      Er bedachte das Mädchen, das vielleicht gerade mal sieben Sommer zählte, mit einem strengen Blick, ließ es aber dabei bewenden – obwohl er wenig mehr verabscheute, als unterbrochen zu werden – und fuhr in leicht gereiztem Ton fort.

      »Es war tatsächlich die Kriegskrähe, auch wenn man den jungen Mann damals noch nicht so, sondern schlicht Kraeh nannte. Der Name seines Begleiters dürfte ebenfalls ein Begriff sein: Sedain, Tausendtod. Schon damals Freund und Kampfgefährte der Kriegskrähe.«

      ***

      »Gchchcht« machte ein Schwan und reckte dabei drohend seinen Hals, als Sedain das Schweigen brach. »Wir hätten diesen Bastard nicht bezahlen sollen. Das habe ich doch gleich gesagt. Diese Sumpfbewohner sind alles Lügner und Verbrecher.«

      »So wie wir«, gab Kraeh zu bedenken. Das Fürstentum Brisak trug seit Jahren eine Fehde mit seinem Nachbarn Rhodum aus. Davon profitierten nicht nur die Orks, die auf der anderen Seite des Flusses erstarkten, sondern auch die beiden Freunde, die gerade eine Waffenladung an den eigentlichen Feind ihres Herrn, den selbsternannten König von Rhodum, verkauft hatten.

      »Wir müssen das Gold verstecken«, sagte Sedain und deutete auf den Sack, der klimpernd am Sattel seines Pferds baumelte.

      »Versuchen wir erst einmal, einen Weg aus diesem Schlamassel zu finden.«

      »Solange der Fluss links von uns ist, können wir uns gar nicht verlaufen«, gab Sedain zurück.

      Kraeh balancierte über einen umgekippten Baum. Das morsche Holz gab ächzende Laute von sich als er antwortete: »Du weißt genau, dass ich nicht diesen Spaziergang meinte. Was, glaubst du, passiert wohl, wenn ein Bote Brisak vor uns erreicht?«

      Sie versuchten zwar, Kapital aus dem Krieg zu schlagen, aber es wäre nicht nur gegen ihre Ehre gewesen – deren Auslegung sie nach eigenem Ermessen der jeweiligen Situation anpassten –, den Feind mit tauglichen Waffen zu versorgen; es hätte vor allem als Dummheit gelten müssen, sich in einem späteren Kampf den eigenen Waffen gegenüberzusehen. Daher hatten sie Schwerter, Piken und anderes Kriegsgerät aus minderwertigem Stahl an die Grenze gebracht. Die wenigen tauglichen Waffen waren obenauf gelegen, doch der Schwindel war aufgeflogen und so hatte das Geschäft in einem Gemetzel geendet, das keinen der kleinen Gesandtschaft des Gegners am Leben gelassen hatte.

      Nach einer Weile der Stille, nur unterbrochen von den Geräuschen der Tiere und ihren eigenen Schritten auf morastigem Grund, setzte Kraeh noch einmal an.

      »Weshalb hast du sofort mit dem Töten angefangen? Wir hätten versuchen sollen zu verhandeln.«

      »Verhandeln?!«, Sedain, der Größere von beiden, spuckte aus. »Dieser Wurm hat mich einen Betrüger genannt. Du bist einfach zu weich, Kraeh.«

      Kraeh blieb kurz stehen, fuhr in alter Gewohnheit mit der freien Hand über den Knauf seines Schwertes, das über seine rechte Schulter ragte, und schmunzelte. Die Klinge auf seinem Rücken hatte einen Tag zuvor vier Männern die Seele aus dem Leib gerissen, etliche Lieder füllten überall im Land die Hallen mit seine Heldentaten, aber Sedain ließ keine Gelegenheit aus, sich über die moralischen Bedenken seines Freundes, die er als Schwäche auslegte, lustig zu machen.

      Sedain dachte laut nach. »Mal ehrlich, unser lieber Fürst Bran weiß ganz genau, was er an dir hat. Wenn es nicht anders geht, erzählen wir ihm einfach, dass die Waffen sowieso Schrott waren.«

      Kraeh zog an den Zügeln, um sein Tier aus einem Sumpfloch zu ziehen. Mit einem Ruck kamen die Vorderläufe frei und der junge Krieger fiel rückwärts in den Morast. Sein Freund lachte laut auf.

      »Manchmal denke ich, zwischen deinen langen Ohren befindet sich nichts als Dreck! Willst du Bran vielleicht erklären, warum wir ihm erst einmal diese bescheuerte Lügengeschichte von Heimaturlaub und so aufgetischt haben?«

      Umständlich rieb er den Schmutz von seinem Fellumhang. »Manchmal glaube ich, ihr Halbelfenstricher seid genauso dämlich wie Orks.«

      Sedain lehnte an seinem Schimmel. »Du bist nur ärgerlich, weil du im Matsch gelandet bist.«

      »Und stinken tut ihr auch wie sie«, grollte Kraeh.

      Das