Die Königin von Verlorenherz. Marcel Zischg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Zischg
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Год издания: 0
isbn: 9783961450015
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dem Gleis folgen mussten: Auf der einen Seite endete das Gleis nämlich im Sand, während es in der anderen Richtung weiter durch die Wüste führte. Sie benötigten auch gar keinen Zug, um zurückzugelangen.

      „Nur lustig müssen wir aus Verlustig am Gleis entlangtanzen“, sagte Til.

      Narr Silberspiegel klopfte Til stolz auf die Schulter und meinte: „Du bist wirklich ein außerordentlicher Junge!“

      Das hatte Til schon so oft von seiner Mutter gehört, dass es ihn fast ärgerte, schon wieder gelobt zu werden. So sagte er einfach: „Ich weiß es nun mal – es muss der richtige Weg sein.“

      Nun suchte sich jeder einen Tanzpartner, wobei die kleine Reggie sofort rief: „Til tanzt mit mir, nur mit mir, und wir tanzen so lange am Gleis entlang, bis wir wieder in Verlorenherz sind!“

      Nur lustig mussten die Menschen tanzen und das fiel ihnen nicht schwer – jetzt, wo sie wieder erlöst waren! Tausende von Menschen begannen also, am Gleis von Verlustig in Richtung Verlorenherz entlangzutanzen – einige zu zweit, andere allein – und jeder tanzte so lustig, wie er sich gerade fühlte.

      Durch ihren schwarzen Zauberspiegel, der jeden in eine ewige Dunkelheit schickte, der hineinblickte, hatte die Königin von Verlorenherz bereits einiges herausgefunden: vom Untergang ihres Bruders, des Königs von Brot, hatte sie ebenso erfahren wie davon, dass die Menschen aus Verlustig befreit worden waren. Allerdings erfuhr sie nicht, wer hinter dieser Tat steckte, weil ihr Zauberspiegel, ein schwarzer Standspiegel mit Rabenflügeln, Narr Silberspiegel und Til nicht sehen konnte. Dies lag daran, dass die beiden selbst im Besitz eines magischen Spiegels waren: des guten Silberspiegels, der sie vor den bösen Mächten der Königin schützte und ihnen weise Ratschläge erteilte.

      Zornig wie sie war, atmete die böse Königin erst einmal tief durch, bis sie schließlich zum einzigen Fenster ihres schwarzen Thronsaals ging – einem klitzekleinen Fenster, so klein wie ein Mauseloch, aus dem sie von ihrem rabenschwarzen Palast herab auf ihr ganzes Reich blicken konnte. Bald würde dieses Reich sehr glücklich sein, wusste sie, wenn die verlorenen Menschen aus Verlustig zurückkämen. Wütend biss sie die Zähne zusammen und hätte am liebsten ihren eigenen rabenschwarzen Spiegel in Trümmer zerschlagen, so wütend war sie über die Freude der Menschen aus Verlustig, die ihr der Spiegel offenbart hatte.

      Mit diesem schwarzen Spiegel konnte die Königin Menschen in die Ewige Dunkelheit verbannen – das war ein ganz schlimmes Reich, in dem man immerfort schlief und nicht wieder aufwachte, ja nicht einmal mehr träumte! Die Königin zwang denjenigen, der in die Ewige Dunkelheit geschickt werden sollte, in den Spiegel zu blicken – dann war er verloren. Aber die Königin wollte nicht alle Menschen in die Ewige Dunkelheit schicken. Sie wollte vielmehr, dass die Menschen hier in Verlorenherz ihr Leid ertragen mussten, wie sie selbst – und das hatte gut geklappt, solange es noch Verlustig gegeben hatte. Die Menschen waren den ganzen Tag nur mehr in ihren Häusern herumgesessen und hatten um den Verlust ihrer Liebsten geweint.

      Seit ihr Gemahl, der König von Weichlieb, sie verlassen hatte, sah die Königin ganz furchterregend aus: Ein Kleid hatte sie an, das wie ein Vogelgefieder aussah. Normalerweise war es rabenschwarz, aber wenn sich die Königin ärgerte, dann glänzte es grün oder blauviolett. In diesem Gefieder konnte sie fliegen und sie besaß eine Flügelspannweite von hundert Metern – wie ein riesengroßer, bedrohlicher Vogel sah sie dann aus. Statt Augen hatte sie schwarze Löcher und eine schwarze Gesichtshaut spannte sich über ihr mageres Gesicht mit garstigen Tränensäcken vom vielen Weinen und Fluchen. An ihrer Kehle wuchsen Federn, die deutlich abstanden, wenn sie ihre Untertanen anschrie. Ihre Lippen waren ganz schwarz angemalt und ihr Haar war ebenso schwarz – es stand ihr zu Berge und war schrecklich verfilzt. Eigentlich sah ihr Kopf wie ein schwarzer Skelettschädel aus, nur dass dieser scheinbare Totenkopf noch die schwarzen Lippen, die garstigen Tränensäcke und das verfilzte Haar besaß – so furchtbar sah sie aus, die Königin von Verlorenherz.

      Nun hockte sie auf dem Thron ihres Thronsaals, in dem alles finster und trostlos gewesen wäre, wären nicht die Bilder gewesen, die an den schwarzen Wänden hingen und die von einem Künstler namens Vincent stammten. Die Königin war so traurig. Deswegen besaß sie nur Bilder, die traurig aussahen und welche die Königin schön fand, weil sie traurig, düster und unheimlich wirkten. In ihrem Thronsaal befand sich ihr Thron, der bloß ein schwarzer Holzstuhl war, nicht einmal erhöht, und daneben stand ein weiterer leerer Holzstuhl für ihren Gatten, der nicht mehr da war. Und irgendwo standen noch ihr schwarzer Zauberspiegel und eine kleine Kerze, die schwach flackerte, auf dem Boden herum. Sonst war der große Saal leer.

      Als die Königin nun wieder durch den rabenschwarzen Zauberspiegel blickte, da sah sie am Bahnhof von Verlorenherz die unzähligen Menschen aus Verlustig zurückkehren, die jetzt alle aufgeregt nach Hause liefen. Sofort rannte sie los und stürzte sich aus dem einzigen klitzekleinen Fenster ihres dunklen Thronsaals – keine Ahnung, wie sie aus dem Mauseloch-Fenster gekommen ist! Sie spannte ihre riesigen Flügel aus und flog voller Wut zum Bahnhof von Verlorenherz.

       Kapitel 17

      Kenzos Mama sitzt allein in der Küche, legt ihr Gesicht in beide Hände und weint. Sie blickt auf das Bild, das an der Küchenwand hängt. Sie hat viele Bilder von einem Künstler namens Vincent, mit dem sie aber nie zur Schule gegangen ist. Sie hat Kenzo angelogen, denn Vincent existiert nur in ihrer Fantasie. Aber er schenkt ihr die Bilder, durch ihn kann sie wunderbare Dinge malen, auch wenn es traurige Bilder sind. Vincent sitzt dann in ihrem Kopf und sie malt, wie er es ihr eingibt.

      Für Kenzo sind diese Ölfarbenbilder nichts Besonderes, weil er sie zu verschwommen und undeutlich findet. „Was zeigen die denn?“, hat er einmal gesagt. „Das sind ja nicht mal richtige Landschaften oder Gesichter! Die sehen einfach nur traurig aus!“ Die Mutter hätte fast geweint, als er das gesagt hatte. Kenzo hat ja keine Ahnung, dass sie die Bilder selbst malt, wenn er in der Schule ist.

      Inzwischen will Kenzos Mama ihre Therapie aufgeben. Die Therapie hilft ihr nicht, sie will einfach nicht mehr unter Menschen, da ist zu viel Schmerz – und sie hat Angst vor neuem Schmerz. Sie ist jetzt schon so traurig, dass ihr das Nachdenken schwerfällt. In ihren Gedanken ist dann manchmal gar nichts – alles ist schwarz und ausgeblendet und unweigerlich ist dann auch alles um sie herum, sogar ihr Sohn Kenzo, nicht wirklich da für sie.

      Außerdem kann sie nur malen, wenn sie einsam ist. Es ist nicht immer schlecht, wenn man allein ist, denkt Kenzos Mama manchmal. Denn beim Malen will sie allein sein – nur weil sie beim Malen allein ist und sich von allen Menschen verlassen fühlt, kann sie diese traurigen Bilder malen, nur dadurch sitzt Vincent in ihrem Kopf, denkt sie, denn Vincent ist so etwas wie der Ausdruck ihrer Traurigkeit. Er schenkt ihr diese Bilder und sie findet seine Bilder eigentlich schön – auch wenn die meisten Menschen diese Bilder wahrscheinlich nicht schön finden würden, weil die Bilder so traurig aussehen.

      Die Mutter blickt auf das Bild, das ihr gegenüber an der Wand hängt. Vincent hat sie darauf gemalt: einen Greis, sein Gesicht in beide Hände gelegt – er ist traurig, verzweifelt, zutiefst erschüttert. Er hat Angst. Er sitzt allein und gekrümmt auf einem Stuhl in einem leeren Raum. Nur einen Kamin gibt es hinter ihm und im Kamin brennt Feuer, aber dem alten Vincent ist trotzdem kalt. Kenzos Mama ist auch oft kalt. Sie fühlt sich dann ebenso wie der traurige Greis auf dem Bild: alt, schwach und kalt.

       Kapitel 18

      Nach dem erfolgreichen Fußballspiel waren Silvan und Rafael mit ihrer Mutter wieder zu Hause angekommen. Julia hatte Silvan gelobt, wie sie Til sonst gelobt hatte: „Und dann bist du auch noch Torschützenkönig geworden – du bist wirklich der beste, Silvan!“

      Rafael aber war in sein Zimmer gegangen und hatte sich aufs Bett geworfen – nun hatte er wieder einmal allen Grund, sich zu ärgern: Warum habe ich nur von der Tribüne aus dem Spiel zugeschaut und nicht selbst mitgespielt?, fragte er sich. Irgendwie stimmt hier etwas nicht, aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Es ist, als hätte ich die Erinnerung an irgendetwas verloren – Mist! Immer ist Silvan der bessere Fußballer! Und