Und Kenzo sagte nichts – sein Gruß war immer ein Lächeln und dann musste seine Mama auch lächeln. Meistens war seine Mama leider traurig. Oft weinte sie sich in den Schlaf. Sie war so traurig, dass sie nur noch still ihren Haushalt verrichtete, ja sie hatte seit einem Jahr außer „Hallo!“ kaum ein Wort mehr gesprochen und verließ auch kaum mehr das Haus. Sie hatte Angst – vor Menschen. Und das nannten die Nachbarn „depressiv“. Kenzo mochte dieses Wort nicht. Einmal hatte er depressiv im Internet nachgeschlagen, aber dort war es so kompliziert formuliert gewesen, dass er beschlossen hatte, dass seine Mama ganz bestimmt nicht depressiv war: Sie war sehr traurig, aber Kenzo wusste nicht genau, warum sie so traurig war. Sie hatte es ihm nie erzählt.
Kenzo und seine Mama lebten von Sozialhilfe und von dem Geld, das Kenzos Mama von ihrer Mama, also von Kenzos Oma, manchmal bekam. Einmal, als Oma vorbeigekommen war, hatte sie zu Mama gesagt: „Ich war auch mal jung und schön und habe mit einem jungen und schönen Mann was angefangen, das weißt du ja, aber er hat mich nicht geliebt und ich bin auch nicht daran zerbrochen und habe dich allein großgezogen. Also sei endlich stark, Kind!“
„Mein Papa hat mich nicht gewollt“, hatte Mama einmal erzählt. „Das war schlimm. Und meine Mama …“ Da hatte sie nicht mehr weiterreden können, weil sie weinen musste. Sie weinte nur selten vor Kenzo, sondern saß meist still vor ihm.
Mehr hatte seine Mama ihm nicht erzählt über ihre Eltern, aber wenn Oma sie besuchte, dann merkte Kenzo immer, dass diese Besuche kurz und selten waren und Oma meist nur wegen Geld kam: „Ich habe das Geld auch gebraucht, als ich dich allein großziehen musste. Was ich geben kann, das gebe ich gern!“, sagte sie oft zu Mama. Dann redete Oma über die Wohnung von Kenzo und seiner Mama, dass einige Möbel endlich einmal erneuert werden müssten, über irgendwelche Spesen, die viel zu hoch waren, und schließlich noch kurz über das Wetter, das für Oma oft viel zu scheußlich war. Und dann stand Oma schon wieder in der Wohnungstür, um sich zu verabschieden, eine Frau mit strengem Blick und wirrem, weißen Haar, das ihr über die Schultern hing. Aber einmal, da hatte sie anscheinend gar nicht gewusst, was sie zum Abschied sagen sollte, als Mama sie nur traurig ansah. Es gab eine kleine Pause, dann sagte Oma etwas gequält: „Wiedersehen!“
Kenzo hat oft nach seinem Papa gefragt. „Er hat uns verlassen“, hatte seine Mama einmal erzählt, „noch vor deiner Geburt“, aber irgendwann sagte sie fast gar nichts mehr, sie hatte nur ständig Angst, wachte nachts auf und nahm irgendwelche Tabletten, damit sie sich beruhigte. Warum hat sie Angst?, überlegte Kenzo manchmal. Sie hatte es Kenzo leider nie gesagt.
Kenzo hatte einmal geträumt, dass sein Papa an der Tür stand, aber seine Mama ihn nur traurig ansah.
Mama ist so verdammt still, sie sagt nie etwas, verdammt!, dachte Kenzo. Das ärgerte ihn immer wieder, aber seiner Mama zuliebe unterdrückte er diese Wut, wenn er bei ihr war. Ein paar Mal schon hatte er einen Jungen vor der Schule verprügelt, aber seine Mama hatte gar nichts dazu gesagt, obwohl die Lehrer gedroht hatten, dafür zu sorgen, dass er in ein Internat käme! Also hatte er damit aufgehört und angefangen, wenigstens jedem Jungen Prügelstrafen anzudrohen, der besser Fußball spielte als er. Kenzos Mama hatte auch nie etwas gesagt, als die Mamas dieser Jungen sich ständig bei ihr über Kenzo beklagt hatten, nicht einmal geweint hatte sie! Sie war einfach durch nichts zu bewegen, und das ärgerte Kenzo unsagbar!
Der Psychiater kam zu ihnen in die Wohnung. „Soziophobie“ nannte er das, was Kenzos Mama traurig machte. Kenzo durfte bei den Sitzungen nicht dabei sein und meistens war er dann in der Schule. „Soziophobie“, fragte Kenzo einmal, „was ist denn das, verdammt?“ Und der Psychiater antwortete: „Angst vor Menschen. Bei deiner Mama ist es vor allem die Angst, dass andere Menschen sie ablehnen könnten, wenn sie sich ihnen annähert.“ „Und wenn schon!“, schnarrte Kenzo mürrisch, „die Menschen reden manchmal wirklich böses Zeug, aber deswegen muss man doch keine Angst vor ihnen haben!“
Kenzo passte gut auf alles auf. Seit einem Jahr erledigte er vieles, was außerhalb der Wohnung getan werden musste, weil seine Mama Angst vor Menschen hatte und einfach fast nie aus dem Haus zu kriegen war. Höchstens zum Sozialamt ging Kenzos Mama, aber auch nur, wenn sie es musste. Und sie zitterte bereits, wenn sie nur in Anwesenheit Anderer ein Formular unterschreiben musste. Sie nahm sich dann wirklich sehr zusammen, fand Kenzo – er sah, wie sie sich auf die Lippen biss und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken. Kenzo bemerkte, wie ihr ganzer Körper bebte, und auf einmal rief er ganz wütend: „Sei still, verdammt!“ Da ließ Mama den Kugelschreiber fallen und lief weinend davon. Kenzo tröstete sie auf dem Heimweg und entschuldigte sich, aber sie ging nur mit gesenktem Kopf in die Wohnung zurück und schloss sich in ihrem Zimmer ein.
Jetzt setzte sich Kenzo zu seiner Mama an den Küchentisch und fragte: „Muss ich etwas einkaufen, Mama?“
„Nein“, sagte seine Mama nur und starrte auf ein Bild an der Wand.
Mama hatte viele Bilder von einem unbekannten Künstler namens Vincent, mit dem sie zur Schule gegangen war, wie sie Kenzo erzählt hatte, und sie blickte diese Bilder oft an. Die meisten davon hingen in ihrem Zimmer und für Kenzo waren sie nichts Besonderes, weil er sie zu verschwommen und undeutlich fand. Mama machte fast gar nichts mehr als diese merkwürdigen Bilder anzustarren – selbst die blöde Hausarbeit blieb jetzt oft an Kenzo hängen, wenn seine Mama zu müde dazu war, obwohl sie nicht viel tat – manchmal kam sie sogar den ganzen Tag nicht einmal aus dem Bett.
„Schau mich nicht so an, Kenzo!“, murrte die Mutter, als sie seinen verärgerten Blick spürte. Da wurde Kenzo noch wütender und ging in sein Zimmer.
Er hätte seiner Mama gern von der unglaublichen Geschichte erzählt, die er erlebt hatte – nun war er ganz allein in seinem Zimmer und wusste nicht, was er anfangen sollte. Am liebsten hätte er jemanden verprügelt. Mit dem Problem meiner Mama bin ich ja schon lange allein – wenn jetzt auch noch Rafael mich hängen lässt, dann muss ich auch das Problem mit dem unheimlichen Jungen selbst in die Hand nehmen, verdammt!, dachte er.
Kapitel 16
In seinem unbändigen Zorn hatte sich der kastenförmige König von Brot zu einer fußballgroßen Brotkugel zusammengerollt, die nun auf Til zuschoss, weil Til die rettende Idee gehabt hatte, wie die Menschen aus Verlustig wieder herausfinden könnten.
Dieser verdammte Schlaumeier!, brüllte der König von Brot vor Zorn, aber gerade seine Verwandlung in eine fußballgroße Brotkugel wurde dem einstigen Kastenbrot zum Verhängnis: Nicht umsonst war Til Fußballer – so schoss er die Kugel mit Leichtigkeit wie einen Fußball in den grauen Nebelhimmel, als sie auf ihn zuflog.
„Du verdammter, verdammter, verdammter Schlaumeier!“, brüllte die fliegende Brotkugel noch, bevor sie für immer irgendwo im Himmel verschwand.
Die Menschen jubelten und die kleine Reggie rief begeistert: „Großartig, Til! Du bist der beste große Bruder!“
„Kleines rothaariges Mädchen“, sagte Til ernst, „ich bin leider nicht dein großer Bruder.“
„Für mich bist du es“, sagte Reggie einfach – und so war es beschlossen. Auch für Til war das in Ordnung, denn er mochte das kleine rothaarige Mädchen sehr. Er spürte, dass sie irgendwie miteinander verbunden waren, auch wenn sie nicht wirklich Bruder und Schwester sein konnten. Aber wenn Til sich eine kleine Schwester hätte wünschen sollen, dann wäre sie genau so gewesen wie Reggie.
Als sie vom Berg stiegen, erlebten sie eine schöne Überraschung: Sie standen in einer weiten Wüste, die sich bis zum Horizont erstreckte – Buchstabenlöcher und Nebel waren fort! Wie jubelte die Menschenmenge – es waren wirklich tausende von Menschen, die sich das Ende der Herrschaft des Königs von Brot herbeigesehnt hatten und nun endlich erlöst waren. Auch der Brotberg hinter ihnen löste sich nun langsam auf und nachdem sie eine kurze Zeit durch die Wüste gewandert waren, die sich ganz kalt anfühlte, fanden