Kapitel 14
Endlich hatten Til, Narr Silberspiegel und das Mädchen Reggie das Alphabet zehnmal aufgesagt und damit nicht nur alle Buchstabenlöcher zerstört, sondern auch die Menschen auf dem Brotberg zurückverwandelt.
Der König von Brot schaffte es nicht mehr, bis auf den Gipfel seines Brotbergs zu gelangen, denn zu tausenden versperrten ihm die Menschen jetzt den Weg, die er einst in sprachlose Brote verwandelt hatte. Diese Menschen waren nun wirklich sehr böse auf den König von Brot und das ist beileibe auch verständlich.
Zu ihrem Glück hatten die Neuankömmlinge in Verlustig immer nur diejenigen Brote vom Brotberg gegessen, die keine verwandelten Menschen waren, denn die Menschenbrote waren gar nicht essbar gewesen und hatten ganz scheußlich geschmeckt. Außerdem hatte man sie gleich als verwandelte Menschen erkannt, denn kaum hatte man sie angefasst, hatten sie laut aufgeschrien.
Jetzt wurde der König von Brot von unzähligen wütenden Menschen auf dem Brotberg festgehalten, ja sogar seine frühere dickwangige Frau war darunter und schrie wütend: „Haltet das verdammte Brot!“ Alle Menschen hatten ihre Sprache zurückerhalten, nachdem Til, Narr Silberspiegel und das Mädchen zehnmal das Alphabet aufgesagt hatten. Nun herrschte plötzlich ein Stimmengewirr ohnegleichen.
Auf dem Gipfel des Brotbergs, der nun deutlich niedriger geworden war, standen Til, Narr Silberspiegel und das kleine Mädchen Reggie. Til kam das Mädchen nun wirklich sehr klein und ziemlich eigenartig vor – sie konnte nicht älter als vier Jahre sein! Aber sie hatte schönes rotes Haar, das ihr bis zu den Füßen reichte, und Augen, die die unbestimmte Farbe von Wasser hatten – und zudem trug sie ein Sommerkleid mit allen Blautönen der Welt darauf!
Nachdem Til, Narr Silberspiegel und Reggie sich vor Freude umarmt hatten, weil sie nun ebenfalls wieder alle Laute des Alphabets sprechen konnten, rüsteten sie sich zum Abstieg vom Brotberg, um mit den vielen erlösten Menschen zurückzukehren, nach Verlorenherz. Til hielt immer wieder nach seinem Vater Ausschau, von dem er ja hoffte, dass er ebenfalls als Brot verwandelt auf dem Brotberg gewesen war.
„Wie finden wir einen Ausgang aus Verlustig?“, wollte Til wissen, während Reggie, durch die vielen verärgerten und traurigen Menschen um sie herum erschreckt, sich plötzlich fest an ihn klammerte.
„Ich will zu meiner Mami“, sagte Reggie. „Sie heißt Resi Redewendung. Kannst du mich dorthin bringen?“
„Ja, kleines rothaariges Mädchen“, sagte Til, strich ihr übers Haar und sah sie freundlich an, „das mache ich gern!“ Das kleine Mädchen gefiel ihm sehr.
„Wir müssen nach dem Zuggleis suchen, das von Verlustig wieder nach Verlorenherz führt!“, rief Narr Silberspiegel, aber weiter kam er nicht, denn jetzt eilten plötzlich sehr viele Menschen auf ihn zu.
„Du weißt, wie wir hier wieder fortkommen!“, riefen sie alle durcheinander und waren sehr aufgeregt.
„Hört gut zu, Leute!“, rief Narr Silberspiegel und wurde ernst.
Til nahm die kleine Reggie bei der Hand und flüsterte: „Wir finden deine Mama, kleines rothaariges Mädchen!“
Das Mädchen lächelte und sagte plötzlich: „Und wenn wir meine Mama gefunden haben, dann will ich mit dir tanzen, lieber Til!“
„Aber zuerst müssen wir leise sein“, mahnte Til, „und Narr Silberspiegel zuhören!“
„Wenn ich euch aus Verlustig führen soll“, rief Narr Silberspiegel laut über die Köpfe der Menschen hinweg, die nun ganz still wurden, „dann müsst ihr mir sagen, wo hier das Bahngleis ist, das nach Verlorenherz zurückführt!“ Das wusste jedoch keiner der Menschen so genau, weil sich der dichte Nebel noch immer über die ganze Wüste legte. „Dann müssen wir eben im Nebel nach dem Gleis suchen“, sagte Narr Silberspiegel. „Das kann doch nicht so schwierig sein!“
Aus der Menschenmenge riefen einige jetzt plötzlich hervor: „Fragt doch den König von Brot selbst, wie wir das Gleis finden! Er soll den Nebel aus der Wüste fortzaubern!“
Nun hielten die Menschen auf dem Brotberg den König von Brot in die Höhe, der war ein stinknormales katzengroßes Kastenbrot, das aus Leibeskräften schrie: „Lasst mich sofort herunter! Selbst wenn ihr das Zuggleis findet, werdet ihr niemals nach Verlorenherz zurückkommen! Denn das Gleis dehnt sich, wenn man es zurückgeht, so unendlich weit, dass es hundert Jahre dauern würde, ehe man es zu Fuß zurückschafft – ihr müsstet immerfort gehen, gehen, gehen!“
„Du blödes Brot!“, maulte die kleine Reggie und schluchzte.
Und die Menschenmenge rief im Chor: „Nieder mit dem König von Brot! Nieder mit dem König von Brot! Nieder mit dem König von Brot!“
„Keine Sorge, kleines rothaariges Mädchen“, tröstete Til Reggie, „wir finden einen Weg – ganz bestimmt!“
Reggie jammerte: „Eigentlich hat die Fahrt hierher im Zug auch schon sehr lange gedauert – mir kam es vor wie eine ganze Woche!“
Til schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: „Aber nicht doch, kleines rothaariges Mädchen! Das hat doch keine Woche gedauert von Verlorenherz bis nach Verlustig! Ich habe mit Narr Silberspiegel nicht einmal die Bahn benutzen müssen. Wir sind nur einige Meter auf dem Bahnhof von Verlorenherz herumgetanzt, am Gleis entlang, haben an etwas Schönes gedacht und im nächsten Moment standen wir auch schon in Verlustig … Moment mal! Vielleicht ist das ja die Lösung! Vielleicht müssen wir nur lustig sein und am Gleis von Verlustig entlangtanzen – sicher kommen wir dann auch ganz schnell wieder nach Verlorenherz zurück!“
„Du verdammter Schlaumeier!“, brüllte der König von Brot, der Tils Worte gehört hatte, denn er hatte sehr gute Ohren, obwohl er ein Brot war. Er wurde nun so zornig, dass sich sein kastenförmiger Brotlaib zu einer wütenden Brotkugel zusammenballte und rief den Menschen zu: „Traurig sollt ihr sein! Traurig und ohne Hoffnung! Nicht lustig!“
Aber Til wiederholte seine Idee nochmals laut vor allen Menschen in Verlustig. Abschließend rief er: „Nur lustig findet man wieder aus Verlustig!“
Der König von Brot gab sich noch nicht geschlagen: Als wütende Brotkugel schoss er plötzlich wie ein Fußball auf Til zu.
Kapitel 15
„Sag mal, bist du bescheuert, Rafael?“, rief Kenzo. Sie standen auf der vollen Tribüne und guckten aufs Fußballfeld hinunter, wo das Endspiel der Füchse gerade in seiner Schlussphase war. „Das da unten auf dem Fußballfeld ist nicht dein Bruder und dein Bruder heißt nicht Silvan, sondern Til!“
Rafael brüllte wütend: „Ach, hör doch auf, mich zu veräppeln!“ Dann lief er davon, weil er es hasste, veräppelt zu werden.
Rafaels Mama blieb zurück und jubelte mit den anderen Eltern auf der Tribüne den Spielern zu, als das Spiel in diesem Moment endete: Drei zu null für die Füchse – und die Mannschaft feierte jetzt nicht nur ihren Meistertitel, sondern auch den blassen, schmalen Jungen mit dem dünnen schwarzen Haar und den dunklen Augen, die wie Löcher aussahen: als ihren Torschützenkönig Silvan!
Der Junge mit dem Trikot Nummer 11, der Til sein sollte, war nicht Til – Kenzo konnte das selbst kaum glauben! Er verließ die Tribüne, lief davon und schwang sich auf sein Fahrrad.
Auf dem Heimweg in die Innenstadt dachte er angestrengt nach: Ich bin doch nur mit Rafael zum Trainingsplatz gefahren und plötzlich kam dieser Sturm auf und wir standen im nächsten Moment auf der Tribüne des großen Fußballplatzes, wo das Endspiel stattfand, das erst Tage später hätte sein sollen. Warum hat Rafael vergessen, wer sein Bruder ist? Und wo ist Til eigentlich? Warum merken die anderen