Am Ufer lag ein mittelgroßes Floß, wohin sie Deor mit knirschenden Schritten folgten. Das Geräusch hallte einsam durch die Nacht. Nachdem sie sich auf die dicht aneinander gebundenen Stämme gesetzt hatten, ließ Deor das Floß mit einer knappen Handbewegung anfahren. Neolyt betrachtete mit großen Augen die funkelnden Wellen, die ihr Gefährt mit der Fahrt in den See schlug. Das Wasser war tiefschwarz und wie mit weißblauen Funken besetzt. Der Himmel schien eine Erweiterung des Sees zu sein, als säßen sie in einer endlos weiten Kugel.
„Gut, wir sind da.“ Deor stoppte das Floß. „Nimm dir schon mal einen Stein“, sagte er zu Yewan, dann fügte er an Neolyt gewandt hinzu: „Ich möchte, dass du versuchst, Magie zu spüren.“
Sie nickte.
Während Yewan und Deor sich leise flüsternd auf den Zauber vorbereiteten, setzte Neolyt sich im Schneidersitz an die Kante des Floßes und entspannte sich, wie Deor es ihr in den letzten Stunden beigebracht hatte. Ihr Atem wurde langsamer, ihr Blick richtete sich in weite Ferne. Die plätschernden Wellen des Sees waren das einzige, was ihre Ohren wahrnahmen, und die einzelnen, klar leuchtenden Sterne verschwammen zu einem Meer aus weißblauem Licht.
Und mit einem Mal spürte sie alles. Es war so groß! Sie fühlte alle Fische und Lebewesen im See, ein ganzes Stück des Waldes, die Berge am anderen Ufer, jede Mücke in der Luft, sogar das Licht der Sterne fühlte sie auf sich gebündelt. Sie spürte alles. Nach Luft schnappend erwachte sie aus der Trance.
„Alles in Ordnung, Neolyt?“, fragte Yewan hinter ihr.
„Ja, alles klar“, erwiderte sie und fuhr sich mit zitternden Fingern über die Augen.
„Hast du etwas gespürt?“
„Ich habe alles gespürt.“
„Alles?“, fragte Deor und trat zu ihnen heran. „Wie meinst du das?“
„Bis über das Ufer hinaus alles, was lebt. Und auch Wasser, Steine und Licht.“
„Licht? Das ist großartig, Neolyt.“ Deor lächelte stolz. „Es gibt manchmal sehr magiegeladene Nächte in den Bergen“, erklärte er, „vor allem hier am See. Und wie es scheint, lässt sich dein sechster Sinn noch um einiges erweitern und ausbilden.“
„Kann ich das jetzt immer machen?“, fragte sie mit glücklich strahlenden Augen.
Doch Deor schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht. Aber wenn du den Sinn nur immer trainierst, wird er eines Tages genauso stark oder vielleicht sogar noch stärker sein als jetzt“, fügte er hinzu, als er ihre enttäuschte Miene sah.
„Keine Sorge, so ehrgeizig und schlau, wie du bist, wirst du in einem halben Jahr schon besser sein als jetzt“, sagte Yewan und sie musste lachen.
„So schnell wird es wohl nicht gehen, aber mach dir darüber jetzt keine Gedanken“, riet ihr Deor. „Genieß das Gefühl und behalte es im Gedächtnis.“
Etwas später stieß Yewan einen gedämpften Freudenschrei aus und kam breit grinsend zu Neolyt hinüber, die ihre Finger vom schwarzen Wasser umspielen ließ.
„Ich hab’s geschafft“, erklärte er und hielt ihr etwas hin.
Neolyt stand auf und betrachtete eingehend den Stein in seiner Handfläche. Er war tiefschwarz und schien mit vielen winzigen Sternen besetzt zu sein. „Du hast den Sternhimmel in den Stein gebannt“, flüsterte sie überrascht, als sie einige Sternbindungen erkannte.
„Du kannst ihn haben, wenn du willst.“ Er streckte ihr den Stein entgegen.
Neolyt nahm ihn in die Hand und musterte ihn abermals sehr genau. Dann zeigte sie auf eine Verbindung. „Das ist die weiße Wölfin Anuim, nach der meine Mutter benannt worden ist“, erklärte sie und fuhr eine Linie aus Sternen nach. Augenblicklich erklang eine Folge von Tönen, die klar und wunderschön über den See hallte.
„Interessant.“ Deor blickte sie überrascht an. „Eure Sternbindungen entsprechen den magischen Tonfolgen der Sterne. Damit hast du schon mal ein relativ großes Stoffgebiet übersprungen.“
„Aber ich muss die alle lernen?“, fragte Yewan und blickte Deor entgeistert an.
„Die magische Verbindung von Licht und Ton ist sehr wichtig“, erklärte dieser. „Du wirst wohl einige der Folgen lernen müssen. Aber keine Sorge, auch Neolyt wird lernen müssen, wie man mit einem Ton Licht entfacht.“
„Als ob’s das besser machen würde“, murrte Yewan und nahm sich einen nächsten Stein aus dem Rucksack.
Noch einige Stunden lang blieben sie auf dem See. Neolyt spielte Melodien auf dem Sternenstein und Yewan schuf noch drei weitere, bis Deor endlich zufrieden war und er sich von Neolyt ein paar Tonfolgen zeigen lassen sollte. Tatsächlich beherrschte er bereits vier davon, als sie wieder zum Ufer aufbrachen, auch wenn er meinte, sie am nächsten Tag sowieso wieder vergessen zu haben.
Bedauernd sah Neolyt auf den See zurück, als sie wieder in den Wald hineintraten. Das berauschende Gefühl der Weite war vergangen, doch die Nacht hatte noch immer dieselbe unvergleichliche Schönheit.
Erst auf dem Weg im Holzkasten unter die Erde überkam sie eine überwältigende Müdigkeit. Nachdem sie Yewan und Deor eine gute Nacht gewünscht hatte, schlurfte sie zu ihrem Zimmer und ließ sich nach einer kurzen Dusche ins Bett fallen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Sterne leuchten. Und mit einem Mal überkam sie eine schreckliche Sehnsucht nach ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrem Rudel und ihrem Wald. Wie lange würde sie wohl ohne sie aushalten müssen? Und wie sehr würde die Magie sie verändern? Bereits jetzt merkte sie, dass sie nicht mehr dieselbe war. Aber das gehörte zum Älterwerden dazu. Und die Magie war ein Teil ihrer selbst geworden, ein aufregender, machtvoller und wunderbarer Teil.
Sie drehte sich zur linken Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Dann schloss sie die Augen und verlor sich im Sternenhimmel.
Sterne sind die Brücken zwischen den Herzen.
Mondschatten
Neolyt atmete tief durch und entspannte sich. Alle Sinne waren geschärft. Nur der sechste muckte noch rum, weswegen sie ihn nicht beachtete. Auch so hörte sie durch ihr Wolfsgehör das Knistern des Flammenzaubers früh genug, um sich wegzuducken und die angreifende Kapsel kampfunfähig zu machen. Sofort folgte ein regelrechter Hagelsturm von Flüchen. Nachdem sie fünfzehn ausgeschaltete Kapseln gezählt hatte, machte sie sich auf einen Angriff des Schwertkämpfers gefasst. Es war ungewohnt, von einer Gefahr zu wissen, bevor man sie wahrnahm, und sie war immer noch unsicher, ob der Ablauf der Prüfung tatsächlich eingehalten wurde, doch im nächsten Moment erklang der Angriffsschrei eines Level-1-Kriegers hinter ihr. Kaum fünf Minuten später durchbohrte sie ihn mit dem Dolch und er verschwand, genauso wie die übrige Umgebung. Sie nahm die Projektionsbrille ab.
„Schön“, sagte Wadne nur und schrieb etwas auf ihren Notizblock.
„Nach so vielen Übungsstunden war das nicht anders zu erwarten“, entgegnete Deor lächelnd.
„Gut gemacht“, erklärte auch Yewan und klopfte ihr auf den Rücken. „Jetzt hast du’s erstmal hinter dich gebracht.“
„Nein“, widersprach Neolyt. „Morgen habe ich noch die Tierkunde-Prüfung, danach hab ich’s geschafft.“
Yewan nickte und wandte sich zum Gehen. Deor trat zu ihr heran.
„Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was ich dir gestern angeboten hatte?“, fragte er.
„Ja“, erwiderte sie.
„Und?“, hakte er nach, als sie nichts erwiderte. Es war eine ihrer merkwürdigen Angewohnheiten, oft nur das zu antworten, wonach gefragt worden war und angedeutete Fragen zu ignorieren.
„Ich dachte, weil ich sowieso nicht zum Rudel darf, ist es wahrscheinlich gut, wenn ich mit der Ausbildung weitermache.“