TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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ja, danke. Die meisten Dinge, die wir gerade lernen, hat mir meine Mutter schon beigebracht.“

      Einen Moment sah Wadne sie nachdenklich an. „Ich hätte da eine Idee … Ich glaube, ich überrasche dich damit, es wird dir gefallen“, erklärte sie schließlich, lächelte ihr noch einmal zu und stand dann auf.

      „Levan, Neolyt“, verabschiedete sie sich.

      „Levan, Wadne“, erwiderte Neolyt und nickte ihr, wie es die Höflichkeit gebot, zu. Mit den Umgangsformen der Reiter hatte sie sich schnell anfreunden können, da es ähnliche auch in ihrem Rudel gab und ihre Mutter stets darauf geachtet hatte, dass sie sich gut benahm.

      Am nächsten Tag beendete Deor bereits am Vormittag das Thema der Einhörner mit einer kleinen Wissensüberprüfung und gab ihr den Nachmittag frei.

      In der Bibliothek hielt sich zu diesem Zeitpunkt niemand auf und sie war froh, ganz für sich zwischen all den Büchern zu sein. Sie holte den Stein heraus, den Yewan ihr geschenkt hatte, und betrachtete ihn eingehend. Er war zweifelsohne ein Meisterwerk. Viele der darauf abgebildeten Sterne kannte sie gut. Doch einige ganz kleine meinte sie, noch nie vorher gesehen zu haben. Mit einer kleinen, abgerundeten Nadel fuhr sie das Sternbild der Schlange nach und augenblicklich ertönte eine Abfolge klarer, harmonischer Töne.

      „Guten Tag“, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter ihr.

      „Guten Tag, Herr Lumis“, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Die Bibliotheksbewohner waren vermutlich die einzigen im Bau, die nicht die Umgangsformen der Reiter benutzten, doch Neolyt störte sich nicht daran. Ganz anders als einige der Erwachsenen, die sich bereits darüber ausgelassen hatten, dass die Schüler in der Bibliothek schlechten Einflüssen ausgesetzt wären.

      „Würden Sie eventuell gern ein Buch über die Kunst zur Hand nehmen, welche Sie gerade zu praktizieren versuchen?“, fragte er sie und wie immer dauerte es ein wenig, bis sie seinen Satz verstanden hatte.

      „Gerne, danke.“

      So verbrachte sie den gesamten Nachmittag damit, in verschiedensten Büchern zu stöbern, und konnte nach kurzer Zeit bereits kompliziertere Melodien erklingen lassen. Auch die Art, wie man diese Steine schuf, glaubte sie, mehr oder weniger verstanden zu haben.

      Als sie die Bibliothek spät am Abend verließ, fiel ihr ein, was Yewan gesagt hatte, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. War sie jetzt schon so geworden wie Deors ehemaliger Schüler? War es unnormal, dass sie den Nachmittag in der Bibliothek verbrachte? Sollte sie ihre Zeit sinnvoller nutzen? Und wie konnte sie das tun? Yewan hatte gemeint, er würde den Schwertkampf oder das Reiten üben. Aber sie durfte nicht allein in die Trainingshalle und geritten war sie noch nie.

      Tief in Gedanken merkte sie nicht, dass sie den Weg zu ihrem Zimmer eingeschlagen hatte, anstatt zum Speisesaal zu gehen.

      „Ravela, Neolyt. Warst du überhaupt schon essen? Ich hab dich gar nicht gesehen“, ließ Wadne sie aufschrecken und da erst merkte sie, wo sie war.

      „Ravela. Nein, aber ich hab auch keinen Hunger.“

      „Denk daran, dass wir morgen viel Sport treiben wollen“, meinte Wadne. „Ich wollte dir nur noch sagen, dass wir uns vier Stunden vor Mittag in der Trainingshalle treffen.“

      Neolyt nickte ihrer Lehrerin zu und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Es war dunkel, und auch nachdem sie die Lampen entflammen ließ, wirkte der Raum kühl und verlassen. Neolyt seufzte und ließ sich aufs Bett fallen. Es war merkwürdig so allein. Im letzten Jahr hatte es ziemlich viele Veränderungen gegeben. Das Rudel war sicherlich gerade auf der Jagd, Sommernächte eigneten sich besonders gut zum Hatzen, weil die Beute oft schon schläfrig war und nicht lange durchhielt. Wie es Flit wohl ging? Hoffentlich war er noch am Leben. Sie gähnte. Der Tag in der Bibliothek hatte sie müde werden lassen. Bald darauf war sie fest eingeschlafen.

      Erst am nächsten Morgen bemerkte sie, dass sie in ihren Kleidern geschlafen hatte. Ihr war unangenehm warm und sie hatte einen komischen Geschmack im Mund. Doch nachdem sie sich geduscht und ihre Zähne geputzt hatte, war sie hellwach und gespannt auf den Unterricht mit Wadne, die ihr schließlich eine Überraschung versprochen hatte.

      Nach dem Frühstück lief sie zur Trainingshalle hinüber, um sich schon einmal aufzuwärmen.

      „Ravela, Neolyt. Nun, wenn du jetzt schon hier bist, können wir gleich anfangen“, meinte Wadne mit einem kurzen Blick auf das Gerät an ihrem Handgelenk. „Ich würde sagen, du legst zuerst die nächste Semesterprüfung ab. Dann haben wir das hinter uns und können mit unserem kleinen Projekt beginnen.“ Bei den letzten Worten lächelte sie geheimnisvoll.

      Neolyt setzte die Projektionsbrille auf und nahm sich eines der Simulationsschwerter. Sicherlich würde sie nur Gegner haben, die nacheinander auftraten, aber noch auf dem Level-1-Niveau waren. Sie hatte die Vorbereitungen auf die Prüfung schon oft durchgekämpft, auch wenn das Semester noch nicht begonnen hatte.

      Einen Moment lang musterte sie die Umgebung. Anders als in den Übungsstunden war sie nicht in neutralem braun gehalten, sondern in weiß. Das war merkwürdig. Doch schon kündigte sich der erste Krieger durch den typischen Schrei an. Ihn hatte sie in wenigen Minuten ausgeschaltet und wartete aufmerksam auf den nächsten. Einige Sekunden lang geschah überhaupt nichts, dann hörte sie abermals den Schrei eines Kriegers und machte sich bereit. Anstelle eines Kriegers tauchten jedoch mit einem Mal die restlichen neun gleichzeitig auf und griffen sie an. Trotz des ersten Schocks versuchte sie, sich so gut wie möglich zu wehren und schaffte es tatsächlich einige Minuten lang, sie auf Abstand zu halten. Doch schließlich hatten sie sie in die Enge getrieben. Instinktiv nahm sie ihre Wolfsgestalt an und sprang einem der verbliebenen fünf an die Kehle, ohne daran zu denken, dass ihre Zähne während der Simulation nichts ausrichten konnten. Tatsächlich sprang sie einfach durch Krieger hindurch und zu ihrem Pech drehte der sich schnell um und traf sie mit seinem Schwert.

      „DURCHGEFALLEN“, leuchtete in großen, roten Buchstaben über den Bildschirm.

      Verärgert nahm Neolyt die Brille ab und sah in Wadnes schuldbewusstes Gesicht.

      „Tut mir Leid, Neolyt, aber wenn ich dir gesagt hätte, dass ich eine Zufallsprojektion eingelegt habe, wärst du nicht so überrascht gewesen. Ich wollte nur testen, wie schnell du dich im Notfall in einen Wolf verwandeln und reagieren kannst“, erklärte sie schnell.

      „Dann war das nicht die Semesterprüfung?“

      „Nein, die kannst du morgen früh oder, wenn du möchtest, auch heute Abend schon machen. Das war nur ein kleines Experiment meinerseits.“

      „Gut, ich habe schon gedacht, ich hätte alle Übungen wieder verlernt.“

      „Nein, keineswegs, du hast dich sehr gut geschlagen“, versicherte ihr Wadne.

      „Danke. Was machen wir denn jetzt eigentlich?“, hakte Neolyt noch einmal nach.

      „Nun, da so schönes Wetter draußen sein soll, habe ich mir gedacht, wir gehen hinaus.“ Wadne zwinkerte ihr zu und blieb geheimnisvoll.

      Gemeinsam packten sie ein paar Übungswaffen in eine dafür vorgesehene Tasche und machten sich auf den Weg zu einem der Aufzüge. Klappernd bewegten sie sich nach oben, bis sich die Türen endlich öffneten und sie über eine kleine Treppe ins Freie gelangten. Unter einer großen Eiche mit dickem Stamm und weitem, Schatten spendendem Blätterdach setzte Wadne die Tasche ab und nahm einen Dolch heraus.

      „Damit kämpfst du am liebsten, oder?“

      Neolyt nickte.

      „Dann erkläre ich dir jetzt, was ich vorhabe. Deor hat mir erzählt, dass du nicht nur Mensch, sondern auch ein Wolf bist. Und ein Wolf ist in erster Linie ein Raubtier, hat also, so vermute ich, auch seine eigenen Angriffs- und Verteidigungstechniken. Liege ich da richtig?“

      „Ja.“

      „Ich finde, es wäre interessant, deine menschlichen und wölfischen Fähigkeiten zu vereinen. Das ergäbe einen ganz neuen Kampfstil. Ich habe so etwas auch noch nie gemacht, aber einen Versuch wäre es wert, oder?“

      „Auf