TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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sagte sie schließlich und zog geräuschvoll die Nase hoch. Der Regen prasselte auf den Schild und den See, das Geräusch hatte etwas Beruhigendes. „Woher willst du wissen, dass ich ein guter Mensch bin? Ich weiß es selbst nicht einmal. Ich bin doch so selten Mensch.“

      „Im Aussehen vielleicht, aber im Wesen bist du immer beides zugleich.“

      „Kann man das mit Magie herausfinden?“

      „Ich glaube schon, aber ich würde es mir nie erlauben, die Gedanken von jemandem zu lesen, der mir das nicht gestattet hat.“

      „Und woher weißt du das dann?“, fragte sie drängender.

      „Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Aber wie sollte es anders sein? Du hast erzählt, du hättest deinen Bruder gerettet, obwohl es gegen die Gesetze des Rudels war. Und das ist etwas Gutes.“

      „Ja“, sagte sie nur. Dann fuhr ein Lächeln über ihr Gesicht. „Danke.“

      „Keine Ursache“, erklärte er und grinste.

      „Was bist du für ein Mensch?“, fragte Neolyt.

      „Das werde ich dir sicher nicht so leicht verraten“, antwortete er lachend.

      „Aber du weißt, wer ich bin“, widersprach sie und zog die Stirn kraus.

      „Das habe ich aber auch selbst herausgefunden“, meinte er, immer noch amüsiert grinsend.

      „Aber ich kann das nicht! Ich habe vorher kaum Menschen getroffen und ich weiß nicht, wie man in euren, ich meine, in unseren Gesichtern lesen kann.“

      „Das lernst du schon“, versicherte er ihr. „Lass uns ein Stück gehen, da hinten bei der Weide kann man sich gut hinsetzen.“

      „In Ordnung.“ Sie sah ihn unsicher an. „Darf ich ein Wolf sein?“

      „Du kannst deine Wolfsgestalt annehmen, wann immer du willst.“

      Sie nickte dankbar, dann floss ihre menschliche Gestalt zurück in die einer Wölfin. Lächelnd sah Yewan ihr nach, wie sie aus dem Schild hinaus in den Regen lief und über die nassen Steine sprang. Etwas in ihm regte sich, wenn er sie so sah. Aber wusste nicht genau, was.

      Sie braucht ihn, doch darf ihn nicht brauchen.

      Zwei Tage später betrat Neolyt nach einem ausgiebigen Frühstück den Unterrichtsraum, in dem Deor bereits wartete. Ein Blick auf den Sonnenmesser an der Wand verriet ihr, dass sie tatsächlich etwas spät dran war.

      „Ravela, Neolyt“, begrüßte Deor sie und sie erwiderte seinen Gruß. „Ich habe mir gedacht, dass wir heute mit der Geschichte der Reiter beginnen“, meinte er leichthin und hielt dann inne, als würde er auf eine Reaktion ihrerseits warten.

      „Gut“, erwiderte sie daher.

      „Dann hat dir Yewan noch nichts darüber erzählt?“

      „Nein. Sollte er denn?“

      „Auf keinen Fall. Er ist etwas … voreingenommen, was das betrifft“, erklärte Deor vorsichtig.

      Neolyt setzte sich auf die Bank und Deor nahm seine gewohnte Position vor der Tafel ein. „Über den Ursprung der Einhorn- und Drachenreiter kursieren nur Legenden, aber eines ist gewiss: Es waren keine Menschen, die damals zu den Einhörnern kamen. In jeder bekannten Legende ist von mächtigen, bereits der Magie begabten Wesen die Rede, die zwar menschenähnliche Gestalt hatten, unsereinem jedoch ansonsten weit voraus waren. Man kann nicht genau sagen, wann der Orden der Einhornreiter gegründet wurde, da es zwischendurch einige Zeitverschiebungen gegeben hat.“

      „Was ist eine Zeitverschiebung?“, fragte Neolyt und blickte von den Notizen auf.

      „Das hängt mit Dimensionssprüngen zusammen“, erklärte Deor, was Neolyt nur noch mehr verwirrte. „Es bedeutet, dass die Einhornreiter damals mit den Einhörnern in eine andere Welt gereist sind, aber dazu kommen wir später noch.“

      Neolyt verstand den Zweck hinter dem Geschichts­unterricht partout nicht. Warum sollte man etwas lernen, was schon längst vergangen war? Das hatte doch keinen Sinn. Man konnte es nicht ändern und es war nicht einmal sicher, ob es überhaupt stimmte.

      „Dafür kann man etwas für heute aus der Vergangenheit lernen“, erklärte ihr Elly einige Wochen später, als sich Neolyt darüber in ihrem Zimmer ausließ.

      „Ach ja? Und wie soll das gehen? Das wird doch so nie wieder passieren“, meinte Neolyt spöttisch.

      „Man kann aus den Fehlern anderer lernen. Wenn zum Beispiel jemand in der Vergangenheit einen Krieg verloren hat, lässt sich im Nachhinein meist genau sagen, warum. Das kann man sich zunutze machen und das nächste Mal den Fehler nicht wiederholen.“

      „Warum sollte man Krieg führen?“, fragte Neolyt verblüfft.

      „Menschen haben die blöde Angewohnheit, ständig nach Macht, Geld und Besitz zu streben. Wer ihnen dabei im Weg steht, wird beseitigt“, erklärte Elly und seufzte. „Aber du hast recht, es ist sinnlos.“

      Neolyt runzelte die Stirn. Das war noch so eine Sache, wegen der sie am liebsten Wolf geblieben wäre. Aber Yewan lag natürlich richtig, wenn er sagte, dass sie selbst bestimmen konnte, wie und wer sie war. Sie würde nicht einfach so Krieg führen.

      Erst einige Wochen später durften die Unterklässler wieder aus dem „Bau“, wie die unterirdische Schule allgemein genannt wurde, hinaus. Drinnen war die Temperatur nach wie vor angenehm warm, doch draußen war es inzwischen kalt genug geworden, dass eine ansehnliche Schneedecke auf den Bäumen und Lichtungen lag. Dieser Ausflug wurde daher deutlich amüsanter als der letzte. Yewan und seine Freunde zettelten eine Schneeballschlacht an und an magischen Tricks wurde dabei nicht gespart. Neolyt tollte in Wolfsgestalt durch das kühle Weiß, wich einem Schneeball aus und erwiderte den Wurf mit einer Lawine aus den Zweigen einer Tanne über Yewans Kopf. Nach ihrer Rückkehr waren alle klitschnass, hatten hochrote Köpfe und grinsten übers ganze Gesicht. Nur Neolyt hatte sich den Schnee aus dem Fell geschüttelt und sah amüsiert lächelnd dabei zu, wie Yewan, Elly und Elnar sich aus ihren nassen Jacken schälten.

      „Treffen wir uns nachher in der Bibliothek?“, fragte ­Yewan schließlich. „Ich hab noch eine Menge zu erledigen und ich glaube, du sitzt auch gerade über den Magie­­­schemen, oder?“, fügte er an Neolyt gewandt hinzu.

      „Die hatte ich schon. Wir haben jetzt mit den Momen-Faltern angefangen. Dauert das wirklich bis zum Ende des Jahres?“

      „Oh ja, wenn du Glück hast und schnell lernst. Das ist ein riesiges Stoffgebiet, weil auch die ganz kleinen Feen und so mit reingehören.“

      „Was für ein Magieschema haben die eigentlich?“

      „Geman“, erwiderte er. „Bis gleich!“

      Die anderen bogen in den Gang zu den Schülerzimmern ein, während Neolyt den Weg zur Bibliothek nahm. Schon seit Langem war sie nicht mehr allein durch die Gänge gegangen. Sie fühlte sich beobachtet und unsicher. Einzelne Schülergruppen liefen an ihr vorüber und hin und wieder auch Erwachsene. Sie hielt sich lieber dicht an den Wänden, um nicht allzu sehr im Weg zu stehen, zumal sie deutlich kleiner war als die anderen und befürchtete, einfach niedergetrampelt zu werden. Einmal hatte sie bei der Jagd auf eine Hirschherde mit ansehen müssen, wie Karr unter die Hufe der panischen Tiere geraten und einfach unter­gegangen war. Das würde sie niemals vergessen, weil Karr zeitweilig ihr Lehrer gewesen war und sie und ihre Freundin Manae die Einzeljagd gelehrt hatte.

      So in Gedanken versunken merkte sie erst spät, dass jemand ihren Namen rief.

      „Neolyt!“ Valria eilte auf sie zu. „Schön, dass ich dich auch einmal sehe. Von Deor und Wadne habe ich schon so viel über dich gehört“, meinte sie und lächelte. „Nur Gutes, natürlich. Du scheinst schnell zu lernen.“

      „Ich habe ja auch in den Ferien Unterricht“, erklärte Neolyt, der das Lob unangenehm