III. Interne Kriterien für die Anspruchsverfolgung
1. Schadensermittlung und Schadenshöhe
a) Schadensermittlung
17
In Fällen, in denen im Kartellzeitraum direkt von einem oder mehreren Kartellbeteiligten Waren oder Dienstleistungen bezogen wurden, auf die sich die Kartellabsprache bezieht, ist die Wahrscheinlichkeit eines erlittenen Schadens groß.44 Es ist empfehlenswert, bei Bekanntwerden eines Kartellverstoßes zunächst die direkten Verbindungen zu den Kartellbeteiligten zu überprüfen. Angaben aus der Einkaufsabteilung oder dem Rechnungswesen helfen hier weiter. Alle für die Schadensverfolgung relevanten Daten45 sollten auch nach Ablauf interner Aufbewahrungsfristen durch die Aussprache eines Dokumentenvernichtungsverbots gesichert werden.
18
Aus Gründen der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts muss jedem Geschädigten eine Klagemöglichkeit zustehen.46 Daher können auch mittelbar Geschädigte Schadensersatz verlangen. Kartelleffekte können entlang der Lieferantenkette über mehrere Wertschöpfungsstufen hinweg eintreten, etwa wenn die kartellbedingten Preiserhöhungen an die Kunden weitergegeben werden („Pass-on“).47 Daher ist zu prüfen, ob kartellbefangene Produkte auf indirektem Wege beschafft wurden oder Bestandteile bezogener Vorprodukte sind. Supply-Chain-Manager des Einkaufs können hier Auskunft geben. Kartellabsprachen können ferner nicht nur die Preissetzungsspielräume der Kartellbeteiligten erhöhen, sondern auch die von nicht an dem Kartell beteiligten Kartellaußenseitern, die vergleichbare Produkte wie die Kartellbeteiligten anbieten (Preisschirm- oder Umbrella-Effekt).48 Deshalb sollten bei entsprechendem Verdacht auch die Beschaffungsvorgänge mit Kartellaußenseitern untersucht werden.49 Da der Kausalitätsnachweis bei Preisschirmeffekten schwieriger als bei direkten Beziehungen zu den Kartellbeteiligten zu erbringen ist,50 empfiehlt sich die frühzeitige Einschaltung eines internen bzw. externen Ökonomen. Selbst Personen, die nicht als Anbieter oder Nachfrager (mittelbar) auf dem von einem Kartell betroffenen Markt tätig sind können Schadensersatz verlangen,51 so dass es sich auch lohnen kann zunächst nicht ganz offensichtliche Verbindungen zu untersuchen.52
19
Kartellabreden können auch über das Ende des Kartells hinaus fortwirken und damit (weiterhin) Kartellschäden hervorrufen, etwa durch langfristige Verträge oder „Lerneffekte“ der Kartellbeteiligten. Daher empfiehlt es sich, die eigenen Vertragsunterlagen über das Ende des Kartellzeitraums hinaus zu prüfen. Auch eine Analyse der Preise im Zeitverlauf kann Aufschluss über etwaige Fortwirkungseffekte bringen. Hierauf deutet etwa ein unverändertes Preisniveau nach Kartellende hin. Solche Fortwirkungseffekte und daraus resultierende Schäden sollten in eine ganzheitliche Schadensermittlung einbezogen werden, ungeachtet dessen, ob es sich um direkte oder indirekte Lieferbeziehungen zu den Kartellbeteiligten oder gar um Preisschirmeffekte handelt. Soweit eine Fortwirkung der Kartellabsprachen und somit einer Schädigung über das Ende des Kartellzeitraums hinaus nicht ausgeschlossen werden kann, ist es naheliegend, auch die Lieferbeziehungen zu den Kartellbeteiligten, zu den ggf. von den Kartellbeteiligten kaufenden Lieferanten und Sublieferanten sowie zu etwaigen Kartellaußenseitern über das Ende des Kartellzeitraums zu überprüfen und Unterlagen, etwa Kaufbelege oder Ausschreibungsunterlagen, zu sammeln und aufzubewahren.
b) Schätzung der Schadenshöhe
20
Kartellschäden lassen sich selten mit absoluter Gewissheit quantifizieren. Während in einigen Jurisdiktionen eine gesetzliche Vermutung eines Schadens auch der Höhe nach besteht,53 enthält das GWB mit § 33a Abs. 2 bislang nur eine für nach dem 26.12.2016 entstandene Ansprüche geltende54 widerlegliche Vermutung, dass ein Kartell einen Schaden verursacht. Die instanzgerichtliche Rechtsprechung zum Kartellschadensersatz hatte Geschädigten auch schon für Fälle, auf die die gesetzliche Schadensvermutung der 9. GWB-Novelle noch nicht anwendbar ist, entsprechende Beweiserleichterungen sowohl für den Beweis der seinerzeit noch relevanten tatbestandsseitigen Kartellbefangenheit als auch eines Schadenseintritts eingeräumt.55 Ganz überwiegend nahmen die Instanzgerichte einen „doppelten“ Anscheinsbeweis an.56 Der BGH hat in der Schienenkartell-Entscheidung zumindest für Quoten- und Kundenschutzkartelle hingegen festgestellt, dass weder für den Eintritt des Schadens noch für die Kartellbetroffenheit die Voraussetzungen für die Annahme eines Anscheinsbeweises erfüllt seien.57 Vielmehr sei der strengere Maßstab einer tatsächlichen Vermutung zu erfüllen.58 Ein Klarstellungsbedürfnis durch den Gesetzgeber scheint angezeigt. Daran ändert auch die „Schienenkartell II“-Entscheidung des BGH vom 28.1.2020 grundsätzlich nichts.59 Der BGH stellt in