Vater TOT? Was wollte ihm die himmlische Zentrale der Macht eigentlich noch alles zumuten?
Den Rest dieser makabren »Feier«, im Volksmund »Leichenschmaus« genannt, ertrug Stephen nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte. Seiner Mutter zuliebe. Doch als die letzten Gäste sich schließlich verabschiedeten, stahl er sich wie ein Dieb zum Gartentürchen hinaus. Er musste unbedingt kurz alleine sein und einigermaßen brauchbare Gedanken aus dem Eintopf des Wahnsinns extrahieren, welcher sein Gehirn immer mehr zu verkleben drohte.
»State Of Doom« nannte er jene bittere Verzweiflung, die klare Gedanken so überaus effektiv vereiteln konnte; leider hatte er sich in diesem »State« schon öfters befunden, fast fühlte er sich darin zu Hause. Wie sollte er nun weitergehen, sein dritter Versuch eines Erwachsenenlebens? Stephen nährte den unangenehmen Verdacht, dass dieses letzte Bonusleben noch weitaus schwieriger auszufallen drohte als seine Vorgänger. Was schon so begann – wie würde das wohl enden?
Er hatte in seinem Schockzustand gar nicht bemerkt, dass jemand ihm heimlich folgte.
* * *
Die junge Frau, die Stephen in einigem Abstand verfolgte, wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte ihren Halbbruder schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen und er wirkte gerade so sehr in seine düsteren Gedanken versunken, dass sie ihn eigentlich gar nicht stören wollte. Andererseits hatte sie ihn von jeher gut leiden können, er zählte zu den sehr erträglichen Teilen ihrer merkwürdigen Familie. Was längst nicht für alle Mitglieder galt.
Sie sah auf die Uhr. Verflixt, schon in einer Stunde würde sie ihren kleinen Sohn bei der Nachbarin abholen müssen! Versprochen ist versprochen. Also blieb nichts anderes übrig. Sie ging schneller, um Stephen einzuholen. Dieser war inzwischen am Elbuferweg angekommen und blieb kurz stehen, um auf die Elbe hinaus zu sehen und tief Luft zu holen. Dann setzte er sich auf eine Bank, stützte seinen Kopf in beide Hände, als wiege er eine Tonne. Jetzt oder nie!
»Hey, Stevie! Entschuldige bitte, dass ich dich hier so einfach überfalle – aber vorhin warst du viel zu belagert, um in Ruhe mit dir sprechen zu können. Ich hoffe, du erkennst mich noch. Ich bin es, Belinda!«
Stephen hob den Kopf, sah seiner Halbschwester aus Vaters erster Ehe ungläubig ins Gesicht. »Belinda? He, ich dachte, du seist in Amerika drüben? Bist du vielleicht extra wegen der Beerdigung über den großen Teich eingeflogen?«
Belindas Gesicht verdüsterte sich. »Nein, ich habe nur eine Zeit lang drüben gewohnt. Bis mich dieser … dieser … abserviert hat. Du weißt, der Vater von Dennis. Dann stand ich plötzlich mit dem Kind alleine da, ohne Job und ohne alles. Mein lieber Herr Lebensgefährte hat sich abgesetzt, einfach so« – sie vollführte eine entsprechende Handbewegung – »wie das Würstchen vom Kraut! Na, und da es in USA kein Melderecht wie in Deutschland gibt, war er eben einfach nicht mehr auffindbar. Fort, weg, verschwunden. Ich weiß ja, ihr hattet mich gewarnt. Doch ich wollte damals vor lauter Verliebtheit nicht sehen, was das von Anfang an für ein verantwortungsloser Volldepp gewesen ist«, erzählte Belinda in ihrer erfrischenden, wenn auch etwas schnoddrigen Art.
»Ach so? Das hat mir niemand erzählt. Ich dachte nur, dass du noch drüben bist, weil ich dich nirgends mehr getroffen habe, auf keinem der üblichen Familientreffen. Da hatte ich dich jedes Mal schmerzlich vermisst, ohne dich waren diese Events ganz schön langweilig. Du kannst dich sicher erinnern, oder?«
Jetzt gelang Stephen sogar ein verhaltenes Lächeln. Er mochte Belinda und war froh, dass genau sie es war, die ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Vater hatte sich kurz nach ihrer Geburt von seiner damaligen Frau scheiden lassen und drei Jahre später seine Sekretärin geheiratet, seine eigene Mutter Kirstie. Acht Monate nach der Hochzeit brachte diese ihn, Stephen, zur Welt. Also musste Belinda heute 28 Jahre alt sein. Vater hatte sich leider nie für die verlassene Tochter interessiert und in der logischen Folge diese auch nicht für ihn.
Belinda erriet seine Gedanken. »Ich hing nicht sehr an dem Alten, wie du dir vorstellen kannst! Der war auch nicht gerade ein Muster an Fürsorge, außer einem monatlichen Geldbetrag haben ich oder meine Mutter nach der Trennung von ihm nichts mehr zu erwarten gehabt. Ach, Schwamm drüber. Heute wollte ich im Grunde nur sicher gehen, dass er seine gerechte Strafe erhalten hat! Wie meine liebe Familie über mich hergezogen ist, als ich Dennis erwartete, ist dir sicher noch im Gedächtnis. Dich und deine Mutter mal ausgenommen.«
»Ja, leider. Aber das ist jetzt alles Schnee von gestern. Gut siehst du aus, wie geht es dir denn?« Stephen musterte seine Halbschwester und stellte fest, dass sie genauso hübsch wie früher aussah. Er musste an Lena denken, seine andere Halbschwester mit dem rotblonden Haar. Schon fühlte er wieder die Stiche in der Herzgegend, die ihm leider vertraut waren. Er konzentrierte sich schnell wieder auf Belinda, bevor ihn die traurigen Gedanken an Lena allzu sehr übermannen konnten.
Belinda sah Lena entfernt ähnlich. Beide hatten Vaters Augenfarbe und die Form der Nase geerbt. Während sich in Lenas Blond viele rote Farbreflexe mischten, war Belindas Haar von einem hellen, warmen Goldton. Auch sie trug es lang, beide Frauen waren in etwa gleich groß und von ähnlicher Statur. Trotzdem mutete Belindas Erscheinung etwas derber, grober an. Vielleicht lag das an ihren Bewegungen, die nicht ganz so gemessen und feenhaft wirkten wie Lenas; Belinda gestikulierte gerne wild, um ihre Worte zu untermalen. Sie musste ja auch mit beiden Beinen fest im Leben stehen, schon wegen ihres kleinen Sohnes, da blieb vermutlich nicht viel Zeit für Träumereien.
»Mir geht es ganz gut. Dennis macht mir Freude, andererseits hindert er mich natürlich auch daran, auszugehen und Leute kennen zu lernen. Na ja, er ist jetzt Vier und wird auch größer, dann wird das bestimmt besser werden. Apropos Dennis – ich glaube, ich muss dann! War schön, dich wieder mal zu treffen.« Belinda drückte seine Schulter und wollte eilig davongehen.
»Warte mal, ich begleite dich zurück. Hast du ein Auto dabei, wo wohnst du denn eigentlich?« Plötzlich hatte Steve Angst vor dem Alleinsein, vor der Wiederkehr in seine arg belastete Gedankenwelt.
»Klar besitze ich ein Auto, das parkt bei eurem Haus gleich um die Ecke. Damit es den feinen Herrschaften nicht peinlich sein musste, mit welch einer alten Schüssel ich hier ankomme. Ich wohne aber nicht in Hamburg, sondern drüben in Cuxhaven«, verriet Belinda grinsend.
Cuxhaven! Wie Lena! Stephen war beim neuerlichen Gedanken an Lena wie elektrisiert, ohne sich das anmerken zu lassen. Im Plauderton meinte er: »Das ist ja nicht völlig aus der Welt. Wir könnten uns doch demnächst mal treffen, wenn du magst. Ich habe meinen Neffen schließlich noch nie gesehen und möchte den jungen Mann endlich kennen lernen«, schmunzelte Stephen, während er seine Halbschwester zum Auto begleitete. Belinda freute sich tierisch und die beiden tauschten eifrig ihre Telefonnummern aus.
»Bis bald!« Belinda stieg in ihren alten, grünen Peugeot 206 und brauste davon. Es fuhr einen heißen Reifen, das Schwesterchen. Ihr Temperament erinnerte eher an die Spanierin Yolanda als an die sanfte Lena.
Yoli … bestimmt war sie jetzt im Jahre 2004 noch/wieder am Leben, je nachdem, wie man es betrachtete. Dieser Gedanke freute Stephen, denn die Schuldgefühle wegen ihres Todes hatten ihn im vorigen Leben nie komplett verlassen. Schließlich war sie mit SEINER Harley verunglückt. Oder vielmehr würde ihr dieses Unglück erst noch passieren, schon im nächsten Jahr. Jedoch nur, falls er wieder nach Spanien auswandern und sich nicht von ihr fernhalten würde. Aber musste er denn unbedingt wieder nach Spanien gehen? Der ursächliche Streit mit seinem Vater jedenfalls würde nach Lage der Dinge todsicher ausfallen.
Nachdenklich blieb Steve noch ein paar Minuten auf demselben Fleck stehen. Er könnte ja Belinda besuchen, sich dabei in Cuxhaven etwas umsehen und vielleicht würde er, ob Zufall oder nicht, hierbei Lena treffen und einen ersten neuen Grundstein legen können …
Ihm war nicht bewusst, auf welche ihm bislang unbekannten Äste Yggdrasils er soeben im Begriff war abzubiegen.
* * *
Kirstie saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch,