Nirgends sind Menschen zu entdecken, nicht einmal Anzeichen einer kleinen Ansiedlung sind zu erkennen. Doch es gibt sie, sie sind überall, allen Blicken verborgen verfolgen sie das Dahingleiten der fremdartigen Gebilde aus einer fernen Welt. Nur im Dunkel der Nacht verlassen die unsichtbaren Bewohner dieses unwirtlichen Landes ihre Verstecke. An der östlichen Küste dieser Meerenge sieht man nachts überall kleine Feuer auflodern, doch in der Morgendämmerung sind wieder alle Anzeichen menschlicher Existenz verschwunden. „Tierra del Fuego“ nennen die Männer auf den Schiffen diese unheimliche Welt – Feuerland.
Die Schönwetterphase findet ein jähes Ende, die Novembertage bringen Frühlingsstürme ins Land. Mit dem ruhigen Segeln ist es vorerst vorbei, die Schiffe werden wild durch die vom Wind aufgepeitschte Wasserstraße geschaukelt. Die vermeintlich schützende Küstennähe wird zur Bedrohung. Niemand weiß, wo sich gefährliche Untiefen verbergen. Nichts wie weg aus diesem engen Gefängnis tückischer Felsen! Magellans Ehrgeiz triumphiert über die Wünsche und Ängste seiner Mannschaft. Keine Umkehr, er will unter allen Umständen das Ende dieser seltsamen Bucht erkunden.
Sie finden kein Ende. Nach Wochen der Bedrohung weichen die Küstenfelsen in die Ferne, die Meerenge wird weit und weiter und mündet in ein riesiges Meer, in dem kein Land mehr zu entdecken ist. Die Wasser liegen ruhig vor den staunenden Männern, die unbekannte See wird für alle Zeiten den Namen „Stiller Ozean“ tragen. Die heiß ersehnte Durchfahrt vom Atlantik in den Pazifik war gefunden, der Weg in die östliche Hemisphäre steht nun offen.
Die Versorgungslage hat sich aber um nichts gebessert. Mehr als drei Monate werden die Männer unterwegs sein, ehe sie wieder bewohnte Inseln erreichen.
Fast zwei Jahre später erreicht die Victoria als einziges verbleibendes Schiff den spanischen Heimathafen. Nur achtzehn der ursprünglich 256 in Spanien an Bord gegangenen Männer können von ihren großen Entdeckungen auf dieser ersten Weltumseglung berichten. Alle anderen sind den Härten dieser einzigartigen Expedition zum Opfer gefallen, auch ihr Anführer Magellan selbst, oder aber sie mussten den Rest ihres Lebens in fremden Gefängnissen verbringen.
Das Land an der Südspitze Amerikas ist durch die Entdeckungen Magellans der spanischen Krone zugefallen, zumindest formal. Die Durchfahrt durch den Kontinent, die später den Namen „Magellanstraße“ erhielt, gewann immense Bedeutung für die Seefahrt auf den Weltmeeren – vor allem für Spanien selbst, das seine Kolonien im Westen Südamerikas durch diese Wasserstraße versorgte. Einige Versorgungsstationen entstanden entlang dieser Meerenge, doch das unwirtliche Land wollte niemand besiedeln.
Erst drei Jahrhunderte später, als die spanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erkämpften, kam die Frage auf, wem nun diese kaum besiedelte Region zufallen soll. Wie könnte es anders sein, selbst um dieses ungewollte Land kam es zu Streitigkeiten. Schließlich wurde es zwischen Chile und Argentinien aufgeteilt.
Erst als die Länder Südamerikas ihre Unabhängigkeit erlangten und der Boden in der Heimat knapp und teuer geworden war, wurden diese vergessenen Landstriche plötzlich interessant für Menschen aus allen Teilen Europas: Briten, Skandinavier, Deutsche und vor allem Kroaten besiedelten die weite, kalte Pampa, die für die Schafzucht wie geschaffen war. Sie besetzten ein Land, in dem es schon Besitzer gab. Die Ureinwohner, die die neuen Grenzen und Zäune nicht respektieren wollten, wurden ihres Lebensraumes beraubt: Unbeachtet von der Weltpresse verübten die neuen Siedler einen der grausamsten Völkermorde der Geschichte. Ein Dollar Kopfgeld für einen toten Ona oder Yamana!
Nichts ist übrig geblieben von der Kultur der rechtmäßigen Besitzer dieses Landes. Es ist eine europäische Welt, der man hier im Süden Chiles begegnet. Nur die ungewöhnliche Landschaftskulisse, die fremdartigen Tiere und Pflanzen erinnern daran, dass man sich als Mitteleuropäer am fernen Ende dieser Welt befinde.
Zwischen rauen Küsten und endlosen Schafweiden mache ich mich auf, die Schönheiten dieses stürmischen Landes zu entdecken. Die Zeit der kleinen Lagerfeuer ist hier endgültig vorbei. Nur einige über die Pampa reitende Gauchos mit ihren Lasttieren erinnern an längst vergangene Tage. Das 21. Jahrhundert hat Einzug gehalten in dieser verschlafenen Idylle und es zu einem idealen Reiseziel gemacht für Touristen aus aller Welt, die fremdartige Naturschönheiten in westlichem Komfort erleben wollen.
Los Cuernos im Torres del Paine-Nationalpark
Gauchos in den Bergen Patagoniens
Die Pinguine, die alle durch ihr niedliches, tollpatschig wirkendes Gehabe bezaubern, scheinen die neugierigen Besucher bereits gewöhnt zu sein. Ihnen ist es besser ergangen als den Ureinwohnern Patagoniens. Sie haben kein Interesse an den neu angesiedelten Schafen gezeigt und wurden deshalb auch nicht ausgerottet. Auf der kleinen Insel Magdalena im Atlantik, die für die Landwirtschaft ungeeignet ist, haben sie ein artgerechtes Refugium gefunden, in dem sie sich auch nicht durch fotografierende Touristenhorden stören lassen.
Was für ein überwältigender Anblick! Über einem kleinen Gletschersee ragen die atemberaubenden Granittürme der Torres del Paine hoch in den Himmel, das absolute Highlight der Region, sie sind das vorrangige Ziel aller naturverbundenen Touristen, auch wenn sie für diesen elitären Aussichtsplatz einige Stunden schweißtreibenden Aufstiegs in Kauf nehmen müssen. Ich bin fasziniert von dieser spektakulären Kulisse und beschließe, diesen gewaltigen Gebirgsstock mit all seinen bizarren Felsformationen, seinen grünblauen Seen und seinen imponierenden Gletschern zu umwandern. Die weltbekannte Trekkingroute „Sendero Circuito de la Cordillera del Paine“ hat zwei Gesichter. Da gibt es die abenteuerliche Seite im Norden mit schwer begehbaren, rutschigen Pfaden, großen Distanzen zwischen den Lagerplätzen und wenigen wandernden Mitstreitern, die sich über den auch im Sommer tief verschneiten John-Gardener-Pass kämpfen. Hat man die einsame und beschwerliche Nordseite hinter sich gelassen, gelangt man im Süden des Massivs in eine malerische Seenwelt, umgeben von gewaltigen Gletschern und mächtigen Granitformationen. Nach den kargen Tagen im Norden findet man hier komfortable Unterkünfte, die jeden Luxus bieten, eher Hotel denn Berghütte. Mit der Einsamkeit ist es hier natürlich vorbei. Bestens präparierte Wege führen zu malerischen Aussichtsplätzen, die man sich mit Hunderten von Naturliebhabern aus aller Welt teilen muss. Dennoch möchte ich keine der beiden Seiten dieser grandiosen Runde missen.
Ich sitze an der Mole in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, und beobachte das vorwiegend touristische Treiben im Hafengelände. In einer Reihe liegen die Kreuzfahrtschiffe hier hintereinander am Kai an den Pollern vertäut, nur wenige Stunden oder Tage vor dem Auslaufen. Aufbruch in den unwirtlichsten aller Kontinente, in die Antarktis! Doch es sind keine abenteuerlichen Typen, die da an Bord gehen. Fein gekleidete Damen in Designerklamotten stolzieren in High Heels auf die komfortablen Schiffe zu, ihre Begleiter transportieren das Gepäck in Rollenkoffern zu den helfenden Mitgliedern der Crew. In wenigen Tagen werden sie in der totalen Einsamkeit an Land gehen und einzigartige Naturschönheiten erleben.
Wie leicht doch alles geworden ist! Ich denke an Magellans Mannschaft, die jahrelang darben musste, um diese Weltgegend zu entdecken. Ich denke an die Pioniere der Antarktis, die auf ihrem Kampf um den Pol Jahre der Entbehrung, Scott und seine Mannschaft sogar den Tod erleiden mussten.
Das Abenteuer des 21. Jahrhunderts hat seine Krallen verloren. Auch für mich! Ich muss die Passagiere auf den Kreuzfahrtschiffen nicht beneiden. Bald werde auch ich den eisigen Kontinent erreichen, und auch ich werde nicht darum kämpfen müssen. Mit dem Flugzeug werde ich komfortabel ins weiße Herz der Erde gelangen, an Plätze, die vor weniger als vierzig Jahren noch von keinem Menschen betreten waren.