Augenblicke später hält ein anderer Bus neben uns, bereit, gestrandete, noch nicht gegarte Passagiere an Bord zu nehmen. Nun bin ich deutlich im Vorteil. Mit wenigen Schritten springe ich in den Bus, während die aufgeregte Damenschar einen verzweifelten Wettlauf auf Stelzen veranstaltet, um die letzten freien Plätze zu ergattern.
Am nächsten Morgen lande ich in Georgetown, der Hauptstadt von Venezuelas kleinem Nachbarn Guyana. Das Florentine’s gilt als gute Unterkunft, sauber und preiswert, also nichts wie hin! Suchend umkreise ich das kleine Gebäude. Eine Rezeption oder zumindest eine offene Tür scheint es hier nicht zu geben. Schließlich entdecke ich eine unscheinbare Pforte an der Seitenwand des Hauses und rüttle vergeblich daran – versperrt! Durch eine Luke sehe ich einen kleinen, stämmigen Jungen herbeieilen, bewaffnet mit einem riesigen Schlüsselbund. Ich kann hören, wie er ein Schloss nach dem anderen öffnet, wie er einen Balken nach dem anderen von der Türe wegschiebt. Schließlich finde ich Einlass und beziehe ein nettes, mit Plüsch überladenes Zimmer.
Eigentlich hätten nach diesem aufwendigen Schlüsselritual bei mir die Alarmglocken klingeln müssen, in meinem kindlich-naiven Vertrauen bemerke ich das jedoch nicht. Was soll mir schon passieren?
Ich nehme meine Kamera, schnalle den Bauchgurt mit all meinen Wertsachen um, schließlich steht noch der Geldwechsel an, und schlendere gut gelaunt durch die fast menschenleeren Straßen der Großstadt. Ein Foto hier, ein Foto da, die Banken halten noch Mittagspause, die Bewohner der Stadt ziehen es vor, die heißen Stunden des Tages in ihren Häusern zu verbringen. Drei dunkelhäutige Männer, alle etwa Mitte zwanzig, kommen des Weges und würdigen mich keines Blickes. Als sie auf gleicher Höhe mit mir sind, stürzen sie sich auf mich, versuchen, mich zu Boden zu reißen und an meine Habe zu gelangen. Zum Glück kann ich mich auf den Beinen halten. Da die drei nicht bewaffnet sind, lasse ich mich auf eine handfeste Schlägerei ein. Gleich am dritten Reisetag mein gesamtes Geld und meine Dokumente zu verlieren, das wäre der Super-GAU!
Ich spüre das Gezerre an meiner Habe, bekomme einiges an Schlägen ab, doch je länger diese Rauferei andauert, desto besser werden meine Karten. Autos halten an. Die Fahrer wagen sich zwar nicht heraus, scheinen die drei Jungs mit ihren Zurufen aber trotzdem mächtig zu stören. Die Burschen werden zunehmend nervöser, zwei von ihnen lassen ab von mir und laufen davon. Den dritten versuche ich festzuhalten, er kann sich losreißen und hetzt auf eine Slumsiedlung zu, ich voller Wut hinterher. Ein alter Mann tritt mir in den Weg. Mit sanfter Stimme sagt er: „Wenn du hier hineinläufst, bist du tot!“
Jetzt, wo die Jungs verschwunden sind, sammelt sich schnell eine hilfsbereite Menschenmenge um mich. Ich versuche, mich zu sortieren. Die Tasche meiner Hose ist zerrissen, doch meine Wertsachen sind noch alle da. Ich habe mein Hab und Gut retten können! Was ich erst später bemerke und was mich weit mehr schmerzt als die Schläge, die ich abbekommen habe, ist die Tatsache, dass meine Kamera zu Bruch gegangen ist. Zum Glück liegt noch eine zweite in meiner Unterkunft.
Minuten später taucht die Polizei auf, irgendjemand muss sie informiert haben. Und wie sie auftaucht! Vier Mann hoch, alle mit kugelsicherer Weste und geladenem Maschinengewehr! Sie lassen mich in ihren Wagen einsteigen und fahren mit mir zweimal um den Häuserblock, angeblich um die Täter aufzuspüren, doch die haben zurzeit natürlich Besseres zu tun, als selig durch die Gassen zu flanieren. Die reine Alibi-Aktion!
Trotzdem hinterlässt diese Pseudofahndung bleibenden Eindruck bei mir. Während der Fahrt richten immer zwei der Polizisten ihre Waffen hinaus auf die Straße. Wenn ein Passant dem Fahrzeug zu nahe kommt, zielen sie direkt auf ihn.
Langsam wird mir klar, in welche Stadt ich hier geraten bin. 100.000 Menschen leben in und um Georgetown, jeden Tag werden im Schnitt fünf von ihnen ermordet – ein gewaltig heißes Pflaster. Zum Glück beschränkt sich dieses Horrorszenario auf die Hauptstadt! Verlässt man diese, so findet man sich schnell in einer völlig anderen Welt – einer Welt ohne Kriminalität und Aggression, einer Welt ohne Belästigung und Rassismus, mit freundlichen Menschen und der Fröhlichkeit der Karibik.
Mich zieht es raus aus Georgetown. Ich will das Land Guyana erleben, nicht die sozialen Spannungen einer angsterfüllten Großstadt. Ich lerne Frank Singh kennen, einen ehemaligen Diamantensucher indischer Abstammung, der nun Trekkingtouren in die Regenwälder seines Landes organisiert. In den nächsten Tagen will er mit einem belgischen Pärchen zu einer sechstägigen Wanderung in den Dschungel aufbrechen. Ziel der Tour sind die berühmten Kaieteur-Fälle. Ich schließe mich der Gruppe an.
Am Morgen verlassen die beiden Belgier Kathleen und Mickey, Frank und ich die Hauptstadt. Wenig später finden wir uns in einer völlig anderen Welt wieder, einer Welt, die durch ihre Farbenpracht bezaubert – das Blau unendlich weiter Flüsse, der rote Sand, der alles zu bedecken scheint, das Smaragdgrün tropischer Vegetation. In das bunte Bild der Landschaft mischen sich kleine, farbenfrohe Dörfer voller Leben. Vorwiegend sind sie von Afroamerikanern bewohnt, doch zunehmend begegnen wir nun Ureinwohnern, meist aus dem Volk der Arawak oder der Patamona. Alles ist voll Leben, die Menschen versprühen Fröhlichkeit, nichts erinnert mehr an die lähmende, angespannte Atmosphäre von Georgetown.
Im Dörfchen Mahdia verabschieden wir uns für Tage von den Genüssen der Zivilisation. Das tun wir, wie könnte es anders sein, in der Dorfkneipe, wo wir schnell in eine muntere Runde hineingeraten, die biergetränkt ins Wochenende gleitet. Es fällt uns schwer, uns von der ausgelassenen Stimmung loszureißen und unser kurzes Gastspiel zu beenden. Wir leeren unsere Gläser, die vorgerückte Stunde treibt uns weiter.
Kleiner Laden in Mahdia – entspannter kann das Leben nicht sein.
Hauptstraße von Mahdia
Am Potaro-Fluss
Wenige Kilometer später endet die Piste am Ufer des Potaro, wo uns schon Melvil, unser Bootsmann, ein Indianer aus dem Volk der Patamona, erwartet. Im Licht der Abendsonne gleiten wir flussaufwärts nach Amatok. Amatok ist kein Dorf, es ist die Pforte zum Land der Goldschürfer und Diamantenwäscher und dient als Nachtlager für jene, die auf ihrem Weg aus oder in die Zivilisation hier gestrandet sind. Ein Gestell aus dünnen Baumstämmen, bedeckt mit einer riesigen Plastikplane – das ist der Komfort von Amatok. Mehr brauchen wir auch nicht, der Platz ist paradiesisch. Schnell knüpfen wir unsere Hängematten in das Holzgestell und eilen zum Fluss hinunter. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne berühren die Wasser des Potaro, als wir ins kühlende Nass eintauchen und die Hitze des Tages aus unseren Körpern fließen lassen. Bis spät in die Nacht hocken wir am Feuer, trinken Rum und lauschen andächtig den Geschichten der Abenteurer, die in der Nähe des Lagers leben und hier, abseits der Zivilisation, ein hartes Dasein fristen. Auch nach Jahren hoffen sie noch immer auf den großen Fund, der mit einem Mal ihr Dasein verändern soll. Frank hat uns eine Tour voller Abenteuer angekündigt. Ich spüre, dass er nicht zu viel versprochen hat.
Am nächsten Morgen sind wir begierig, endlich zu Fuß in den Dschungel aufzubrechen. Daraus wird nichts! Nur wenige Güter und Bräuche sind aus der Zivilisation bis hierher in die Wildnis vorgedrungen, doch die Sonntagsruhe hat es geschafft. Heute will und wird hier niemand arbeiten, Stillstand in Amatok! Kathleen, Mickey und ich nehmen es gelassen, die Umgebung hat genug zu bieten. Wir brechen auf eigene Faust auf, unser Forscherdrang wird auch am Sonntag nicht ruhen und voll auf seine Rechnung kommen.
Gleich hinter dem Lager erblicken wir die Ama-Fälle. In 20 Meter hohen Kaskaden stürzt der Potaro hier in die Tiefe. Unterhalb dieses Naturschauspiels queren wir den Fluss, folgen kaum erkennbaren Dschungelpfaden und geraten in die Welt der Gold- und Diamantensucher. Hin und wieder treffen wir auf einen mickrigen