Es gibt immer eine Menge Schuldige. Aber leider ganz selten einen Verantwortlichen. Es sind immer erst mal die anderen. Und das wird heißblütig verteidigt. Mit dieser Emotion muss man umgehen, da muss man als Berater erst mal die Ruhe bewahren, sonst wird man konfus. Alles brav anhören, nicken, zum Nächsten gehen. In dieser Situation ist die Lösung weit. Solange das gegenseitige Schuld-in-die-Schuhe-Schieben die vorherrschende Kultur ist, gibt es keine Lösung und schon gar nicht eine elegante »kleine Lösung«.
Solange jeder dem anderen Schuld gibt, ist eine Lösung weit weg.
In unserem Beispiel hatte diese Phase vor allem die eine Folge: Es gab immer noch kein warmes Essen! Nachdem wir uns alles angehört hatten, niemand etwas dafür konnte und offenbar jeder alles richtig machte, standen wir noch immer vor der Frage: Warum schaffen es die Essenswagen nicht rechtzeitig auf die Stationen? Wo im System ist der Haken? Warum ist das Essen kalt?
Nun musste – im wahrsten Sinne – alles auf den Tisch. Es war an einem heißen Sommertag, draußen brannte die Sonne. Wir saßen in einem klimatisierten Konferenzraum bei zu kühlen 18 Grad und suchten nach Ursachen. Was ist mit dem Essen?
Wir hatten gute, weniger gute und auch spleenige Ideen. Wir diskutierten eine ganze Zeit. Dann hatte einer meiner jungen Kollegen eine recht simple Idee, um herauszufinden, woran es liegen konnte. Er sagte: »Wir kleben einfach einen Zettel an die Essenscontainer, schreiben drauf, wann sie die Küche verlassen haben.« Neben der Uhrzeit, so seine Idee, sollte noch notiert werden, dass »das Essen 45 Minuten warm ist«. Das klang simpel. Wir stimmten sofort zu und machten das.
Folgender Text kam auf Papier, das auf die Essenswagen geklebt wurde: »Aus der Küche: 11.05 Uhr. Das Essen ist 45 Minuten warm.« Die Idee kam bei allen gut an. Auf diesem Weg betrieben wir also Ursachenforschung. Wir waren sicher, jetzt konnten wir forschen: Wo stockt es? Wo stehen die Wagen? Wie lange stehen sie dort? Und vor allem: Warum?
Das Essen ist 45 Minuten lang warm.
Auf diese Weise, so war der Gedanke, können wir nachvollziehen, wo es hakt, wo man ansetzen muss. Also stellten wir uns wenige Tage später zur Mittagessenszeit an das Ende des Fließbands der Küche. Wir warteten, bis alle Tabletts im Essenscontainer verstaut waren. Dann klebten wir einen unserer Zettel mit Tesafilm auf den Wagen, schrieben die Uhrzeit drauf, ergänzt durch den Satz: »Das Essen ist 45 Minuten warm.« Wir machten das ganz klassisch: mit Stift und Papier. Alles kein großer Aufwand. Als wir fertig waren, hatten alle Container einen Zettel. Und dann ging es los.
Was dann geschah, verblüffte alle Beteiligten. Vor allem auch uns.
Ohne einen Plan. Ohne Meetings. Ohne Rundmails
Es dauerte nicht lange, und das Essen kam warm bei den Patienten an.
Warm. Innerhalb kürzester Zeit war das Problem gelöst.
Was war geschehen? Was war denn da passiert? Alle waren verblüfft.
Aber es war offensichtlich: Es hatte sich etwas geändert. Ohne eine Anordnung. Ohne einen Plan. Ohne Meetings. Ohne Rundmails. Ohne eine einzige Software.
Wenn die Suche nach der Lösung schon zur Lösung wird
Und das hatte einen einfachen Grund: Die Suche nach der Lösung kann bereits die Lösung sein. Und es ist ein Beispiel für die Kunst der kleinen Lösung.
Was genau war geschehen?
Inmitten der hochkomplexen Logistik und Technologie der Klinik zeigte sich plötzlich eine vernachlässigte, aber im entscheidenden Augenblick doch absolut zuverlässige multifunktionale Lösungssoftware: der Mensch. Der Mensch, der lesen kann und ohne Anleitungen plötzlich zu denken beginnt …
Mit einem Mal wurden die Container wahrgenommen, wurden die Zettel gelesen. Ein Papierzettel, mit Klebeband am Wagen befestigt, versehen mit zwei zentralen Botschaften. Erstens: Kochzeit, zweitens: »Das Essen ist 45 Minuten warm.« Das reichte.
Es reichte, einen Zettel auf einen Wagen zu kleben
Wir nehmen oft große Worte in den Mund, sprechen vom »Paradigmenwechsel«, vom » Kulturwandel« oder »Mentalitätswandel«, wenn sich etwas ändern soll. Manchmal reicht es jedoch, einfach einen Zettel auf einen Essenscontainer zu kleben, und das Verhalten der Menschen ändert sich, ja, sie werden verantwortungsbewusster.
Aber was war passiert? Der Reihe nach. Die Essenswagen mit den Zetteln wurden also ausgefahren. Und dann machten alle etwas ein bisschen anders als sonst: Auf einer Station verlegte der Chefarzt seine Visite, damit das Essen noch innerhalb der 45 Minuten verteilt werden konnte. Man hatte festgestellt, dass Mahlzeit und Chefarzt-Visite kollidierten. Auf der zweiten Station begannen die Reinigungskräfte damit, den Wagen vom Aufzug zur Station zu schieben. Sie konnten einfach nicht mit ansehen, dass da Essen kalt werden sollte. Ein Blick auf die Uhr genügte, und jedem war sofort klar, was los war.
Auf der dritten Station hatten die Patienten auf das Anrollen des Essenswagens geachtet, immer ein Patient schob von nun an »Wache«. Auf der vierten Station hatten die Pflegekräfte ihre übliche Mittagspause verlegt, weil jetzt klar war, wann und wie schnell das Essen weggebracht werden muss. Damit wir uns richtig verstehen: Die Information war der Zettel auf dem Wagen. Sonst nichts.
Die Suche nach den Ursachen löste das Problem
Es war für jeden nur ein Handgriff, nur eine kleine Korrektur. Viele Menschen, viele Angestellte des Krankenhauses, Ärzte, Ärztinnen, Pfleger, Schwestern, Helfer hatten den Zettel gelesen. Ein Zettel, der zu nichts aufforderte. Der eigentlich kein Handeln verlangte. Es stand nur darauf, wann gekocht wurde und wie lange das Essen warm ist, nämlich 45 Minuten. Nichts Besonderes also. Und doch war das Problem gelöst.
Die Ursachenforschung war gleichzeitig die Problembehebung. Eine kleine Lösung für ein großes komplexes Problem. Ein Zettel, keine Software.
Und die Klink hatte 300 000 Euro gespart.
Der Mensch hatte die Technik überholt. Statt das Problem technisch und damit immer auch aufwendig zu lösen, hatten wir es sozusagen menschlich gelöst.
Wir hatten die Komplexität mit einer einfachen Lösung gemeistert. Das ist systemische Beratung. Das ist die Kunst der kleinen Lösung. Gerade wenn die Probleme groß und komplex sind.
Der Mensch, das habe ich in den vergangenen Jahren oft genug erlebt, ist nicht selten das fehlende Teil im Puzzle. Es gibt die Fälle, da behindert der Mensch durch menschliches Verhalten eine Lösung, und es gibt die Fälle, da löst sich der Knoten durch die Einbindung des Menschen. Aber man darf ihn nie aus dem Blick verlieren.
Trotzdem trauen wir dem Menschen immer weniger. Wir trauen ihm nicht über den Weg. Wenn er nicht eingebunden ist in eine IT-Infrastruktur, erscheint uns der Mensch unberechenbar, schräg, kaum zu navigieren. Obwohl gerade der Mensch sehr oft mit viel Ideenreichtum und einer ihm eigenen Vielfalt das Problem angeht, wie im gezeigten Fall. Der Mensch trägt oft die Lösung in sich – und wir lassen sie nicht heraus.
Wir sind oft dem technischen Lösungsansatz verfallen. Warum eigentlich? Ich als Ingenieur weiß das von mir selbst: Wir wollen Technik, weil es einfach unglaublich reizvoll ist, eine neue Technik zu entwerfen und zu bauen.
Den Menschen etwas zutrauen
Erliegen wir diesem Reiz, lassen wir uns von nichts und niemandem aufhalten. Tatsächlich aber steht sie uns nicht selten im Weg, unsere Technikverliebtheit. Auf der einen Seite ist die deutsche Ingenieurskunst unser ganzer Stolz. Das ist das, was die Welt von uns kennt, von uns will. Das sind unsere Exportschlager. Damit haben wir nicht zuletzt auch unseren Wohlstand begründet. Die Kehrseite ist die fast schon ungezügelte Liebe zur Technik. Kopflos, im wahrsten Sinne blind vor Liebe stürzen wir uns in Aufgaben und trauen der Technik in dieser Hochphase der Liebe alles zu – vor allem nur Gutes. Wir überhöhen die Technik wie ein frisch verliebter Teenager seinen Schwarm. Wir haben Schmetterlinge im Bauch, wenn von ferne eine technische Lösung winkt – und verlieren dabei den Blick auf den Menschen. Auf den Menschen, der diese Technik nutzen soll. Und das sage ich als Ingenieur.
»Mit