Jede Woche fast ein atomarer Kollaps?
Alles hat eine Vorgeschichte. Nichts passiert zufällig. Vor meinem Studium war ich Mitte der sechziger Jahre zwei Jahre lang bei der Bundeswehr in der Ausbildung zum Nachschuboffizier, zuletzt bei einem Jagdbombergeschwader, und zwar einem Atomwaffengeschwader. Ich war sozusagen mittendrin im Kalten Krieg. Ein Atomwaffengeschwader, das war nicht nur Militär oder Logistik – das war immer auch Politik. Es war der negative Aspekt des »technischen Fortschritts« mit seinem Zerstörungspotenzial.
Europa stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem atomaren Kollaps. Und zwar jede Woche. Wir haben das in einer furchteinflößenden Regelmäßigkeit erlebt.
Ständig gab es sogenannte Alarmflüge. Wir wussten nie, ob es ein Ernstfall war oder eine Übung. Wir befanden uns in einem Daueralarm. Immer schien die Welt am Rande eines Krieges zu stehen. Immer war die Bedrohung unmittelbar. »Bereite dich auf den Abgrund vor.« Drohten schon wieder Trümmer? Welche Rolle spielten die technischen Möglichkeiten, welche die Politik? Wer beherrscht hier wen? Das wollte ich verstehen. Der rein technische Blick schien mir nicht ausreichend.
Ich will mehr als nur Technik!
Schon im zweiten Semester Elektrotechnik habe ich als Wahlvorlesung Frederic Vester »Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter« gehört. Der 2003 gestorbene Biochemiker war einer der Ersten in Deutschland, der unter Berufung auf die Kybernetik ein systemisches, vernetztes Denken propagierte. Er sah als Eigenschaften eines Systems ein vernetztes Wirkungsgefüge, in dem die Wechselwirkungen zwischen den Teilen wichtiger sind als die Eigenschaften der einzelnen Teile. Seine Vorlesung war für mich ein Wendepunkt. Danach habe ich das Parallelstudium politische Wissenschaften begonnen. Einerseits faszinierte mich der kybernetische Ansatz, andererseits war mir klar: »Ich will mehr als nur die Technik!« Das grenzenlose Vertrauen in die Technik hielt ich für nicht angebracht.
Bei der Bundeswehr hatte ich erlebt, wie schon damals Kampfflugzeuge vollautomatisch flogen. Alle Probleme schienen technisch lösbar. Wie riskant war das? Wie riskant darf Technik überhaupt sein? Und wer hatte die Verantwortung? Diejenigen, die die Maschinen entwickelten? Oder diejenigen, die sie einsetzten? Darf alles gebaut werden, was machbar ist? Wo ist die Grenze? Und wer zieht gegebenenfalls Grenzen? Und mit welcher Begründung?
Technik über alles – und wer trägt die Verantwortung?
Früh war klar, dass ich dafür mehr als nur technische Antworten benötigte.
Und früh suchte ich mir Menschen und Vorbilder, die Antworten geben konnten – oder zumindest die richtigen Fragen in die Debatte warfen.
Neben der Erfahrung in einem Jagdbombergeschwader hat mich die Zeit davor an der Logistikoffiziersschule in Hamburg geprägt. Meine experimentelle Prüfungsarbeit enthielt die Aufgabe, einen Munitionstransport mit 40 Lastwagen quer durch Deutschland zu bringen. Wie steuert man einen solchen Nachschubtransport? Als gravierendes Problem dieser Aufgabe erwies sich ein heiß gelaufenes Radlager eines mit Sprengstoff gefüllten Lastwagens. Wegen dieses Radlagers mussten umgehend die Menschen in den umliegenden Orten evakuiert werden. Ein verunglückter Munitionstransporter hätte durchaus eine Katastrophe auslösen können.
Oft hängt alles von der Logistik ab.
Es hat mir gezeigt: Das Funktionieren eines Systems hängt oft von einer vermeintlichen Kleinigkeit ab. Das Erlebnis hat mich auch tief und emotional mit der Logistik verbunden. Wie werden die Dinge in Bewegung gebracht?
Wie organisiert man intelligent und nachhaltig den Warennachschub?
Wie hält sich ein Organismus durch eine laufende »Nährstoffversorgung« am Leben? Faszinierende Fragen, in gewisser Weise auch globale Fragen. Denn viele Systeme müssen am Laufen gehalten werden. So zog sich neben dem Strang der Kybernetik die Logistik wie ein roter Faden durch mein Leben.
Die Welt als riesiges Uhrwerk?
Im Grunde gab es für mich nie eine eindeutig nur technische Frage und nie eine eindeutig nur politische oder nur emotionale oder nur religiöse Frage.
Geprägt von Frederic Vester habe ich von Anfang an einen systemischen Ansatz verfolgt, der gleichzeitig die Menschen, die Organisation und die Technik in den Blick nimmt. Also das relevante »System«. Das geht aber nur, wenn man vorgezeichnete Wege verlässt. Ein Ingenieursjob bei Siemens oder einem anderen Großkonzern – und da gab es genügend Angebote – hätte mich in meiner Sichtweise eingeengt. Das hat mich nicht gereizt. Weil mir immer etwas gefehlt hätte.
Es gab den Drang, aus dem reinen »Maschinenmodell« auszubrechen. Der Glaube des Menschen, dass die Welt funktioniert wie ein riesiges Uhrwerk, ist alt. Den hat schon der Philosoph René Descartes vertreten.
Aber die Welt als riesiges Uhrwerk ist ein Modell, eine Denkweise, ein Glaube. Dennoch sitzt dieses »Maschinenmodell« bis zum heutigen Tag tief in unserem Bewusstsein – meist als Gewissheit. Die Erfahrung lehrt uns aber etwas anderes: Die Welt funktioniert nicht so.
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bewusstsein gewandelt, von der Welt als Maschinenmodell zu dem Bild der Welt als einem lebenden, auf den Menschen zentrierten Organismus. Der Begriff »lebende Systeme« gewinnt an Bedeutung.
Auch Organisationen sind lebende Systeme.
Organisationen können also sowohl als Maschinen als auch als »Lebewesen« betrachtet werden. Beide Sichtweisen haben ihren Wert, aber die Sichtweise »Lebewesen« ist wichtiger, wenn man Komplexität meistern will.
Haben die Gesellschaft, die Wissenschaft und die Industrie aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt? Ich fürchte, eher nein. In einer neuen Welle der Technologisierung spielte zum Beispiel das Schlagwort »Wissensmanagement« in den 1990er Jahren eine zentrale Rolle. Diesem Ansatz zufolge kann mit Hilfe von Wissensingenieuren die spezielle Expertise der Facharbeiter erfasst und in eine Wissensdatenbank eingegeben werden. Wenn dies gelingt, werden die Wissensträger als Person nicht mehr benötigt. Deren Know-how liege sicher in der Datenbank.
Es wiederholte sich der Irrglaube: Die Technik richtet alles. Und fast ein Jahrzehnt hat es gebraucht, bis die Entwicklung (wieder) an dem Punkt war, dass beim Wissensmanagement der zentrale Träger des Wissens mit all seinen Facetten der Mensch ist, der unterstützt wird durch den »Datenträger« Maschine. Der Glaube, mit einer hochpreisigen IT-Software ließen sich im Grunde alle Probleme eines Unternehmens oder einer Organisation lösen, ist immer noch weit verbreitet. Und nicht wenige IT-Systemberater schüren genau diesen Glauben. Wenn ich in Unternehmen als Berater unterwegs bin, ermutige ich daher gemäß meinem Ansatz: Schaut nicht nur auf die IT! Treibt es nicht zu weit mit eurer Technikliebe! Das trübt den Blick!
Erst der Mensch, dann die Organisation und dann die Technik
Die Technik scheint immer wieder zu dominieren: Wir sammeln Unmengen an Daten und wissen noch nicht einmal, wofür. Wir gehen davon aus, dass wir die Daten später einmal vielleicht benötigen. Wir planen eine gigantische Energiewende, wollen den Strom aus der Nordsee bis Baden-Württemberg leiten, und haben keine Ahnung, wie die Menschen das finden. Wir verlieben uns in ein technisches Projekt und lassen alles andere links liegen, zum Beispiel die Menschen.
Im Kern geht es mir um einen Umstellungsprozess vom falschen Ansatz: »Erst die Technik, dann die Organisation und dann der Mensch« hin zu einem Ansatz: »Erst der Mensch, dann die Organisation und dann die Technik«. Der HOT Approach: »First Human, then Organisation, then Technology«.
Wenn es gelingt, diese drei Elemente in der richtigen Reihenfolge nachhaltig zu vernetzen, also systemisch zu denken, dann lassen sich viele komplexe Schwierigkeiten vergleichsweise geschickt lösen. Mit kleinen Lösungen, von denen ich Ihnen im Buch einige exemplarisch vorstellen werde. Beispiele, bei denen der Glaube an die teure IT-Lösung fast die naheliegende Lösung