„Mir geht´s ausgezeichnet, Doktor.“
Der Psychiater musterte sie noch einen Moment besorgt, dann drehte er sich nach Toby um.
„Sie können gleich mitkommen, Herr Weston.“
2
Dr. Greulichs Praxis lag in einem Geschäftshaus mit Blick auf die Leopoldstraße. Es war ein großer Raum mit dickem Teppich. Das Licht war sehr gedämpft. Der Psychiater hielt ein solches Behandlungszimmer für perfekt, weil es den Patienten irgendwie das Gefühl verlieh, sich wieder im Mutterschoß zu befinden, von ihrer Seite aus natürlich nur eine unbewusste Reaktion.
Der Psychiater nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er war ein drahtiger kleiner Mann mit einem sorgfältig gestutzten Schnäuzer und Gesten, die manchmal eine Spur geziert wirkten. Er machte nie Aufzeichnungen oder Notizen. Für die absurde Fülle von Daten hinsichtlich seiner Patienten konnte er im Computer nachsehen.
Die Hände im Schoß zusammengelegt, saß Toby artig auf einem bequemen weißen Polstermöbel, während Dr. Greulich mit einem schwarzen Kugelschreiber spielte.
„Sie hatten mir zuletzt von einer Stimme erzählt, die durch ihren Kopf spukt“, begann der Psychiater.
„Handelt es sich dabei nicht um ein weit verbreitetes Problem?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Gibt uns nicht laufend unser Unterbewusstsein bestimmte Befehle?“
„Sagen Sie es mir. Was erhalten Sie für Befehle?“
„Egal. Ich möchte, dass Sie mir die befehlende Stimme vom Leib halten! Ich bin ein freier Mensch und akzeptiere keine Befehle. Besonders nicht von irgendeinem Arschloch, das in meinem Kopf sitzt. Also vertreiben Sie die Stimme!“, sagte Toby in einem trotzigen, kindlichen Ton.
„Ich? Wie kann ich das tun?“, fragte der Psychiater. „Schließlich ist es Ihre Stimme, und sie sitzt in Ihrem Kopf.“
„Ich zahle Ihnen neunzig Euro die Stunde! Also verdienen Sie sich das Geld. Ich will diese Stimme nicht mehr hören.“
„Hören Sie sie im Augenblick?“
Ehe er antwortete, wartete Toby, als horche er in weite Fernen.
„Nein.“
„Wie klingt die Stimme?“
„Winselnd, vorwurfsvoll, wie sich ein Arschloch eben anhört.“
„Wann haben Sie diese Stimme zum ersten Mal gehört?“
„Vor Jahren.“
„Was haben Sie getrieben, als Sie sie zum ersten Mal gehört haben?“
„Warum interessiert Sie das?“, hakte Toby nach und zog die rechte Augenbraue empor.
„Ich bin ein Voyeur.“
„Wollen Sie mich verarschen?“
„Ich sage Ihnen die Wahrheit“, antwortete Dr. Greulich. „Auf meine Art bin ich ebenso verrückt wie Sie es sind. Ich bin ein Voyeur. Es macht mir Spaß, in schmutziger Wäsche herumzuwühlen. Was glauben Sie, warum ich Psychiater geworden bin? Nur, um meinen lieben Mitmenschen zu helfen? Niemand tut irgendetwas ausschließlich aus humanitären Gründen. Da ist immer noch etwas Anderes im Spiel, ein zusätzlicher Kitzel.“
Er war mit Toby vollkommen offen. Er belog seine Patienten nie, und schizoide Patienten schon gar nicht, weil er, selbst schizoid veranlagt, allzu gut wusste, wie empfindlich sie auf Lügen reagierten.
„Ein Test für die normale oder psychotische Veranlagung ist das Maß an gegebener oder nicht gegebener Verständigungsmöglichkeit zwischen zwei Personen, von denen die eine das ist, was man gemeinhin als »normal« bezeichnet. Von diesem Test ausgehend, kann ich Sie unmöglich als verrückt und mich selbst als geistig gesund bezeichnen. Ich bin ebenso verrückt wie Sie es sind. Nur dass ich persönlich gelernt habe, normal zu funktionieren. Die Schizophrenie ist ein geistiges Land, und ich bin dort gewesen und zurückgekehrt - ein Reisender, der sich auskennt. Das ist der Grund, warum Sie mir neunzig Euro die Stunde zahlen. Ich bin ein Reiseführer, der große weiße Jäger des Geistes, der alle Fluchtwege kennt.“
Er lachte vergnügt über seine Metapher und ließ den schwarzen Kugelschreiber durch deine Finger rollen.
„Sie reden wie ein unreifes, eitles Kind!“, sagte Toby geradeheraus.
„Und? Ich bin eingebildet und eitel, aber ich kann funktionieren. Ich habe die Splitter meiner Schizophrenie gebündelt. Ich halte sie fest und Sie fallen auseinander. Wenn Sie dieses Auseinanderfallen verhindern wollen, müssen Sie mir sagen, was ich wissen will. Wenn nicht, dann verschwinden Sie. Ich brauche Sie nicht. Für einen Patienten, der geht, finde ich im Handumdrehen ein Dutzend neue!“
„Warum haben Sie mich als Patienten überhaupt angenommen?“ Tobys Stimme war unbewegt, aber in seinen Augen zuckte es.
„Weil Sie ein Verrückter unter Verrückten sind. Ein Mann dessen Hobby es ist, verheiratete Frauen zu verführen. Wie bescheuert ist das denn? Ich könnte Ihren Fall in einem Bericht für eine Fachzeitschrift abhandeln. Sie sind etwas Besonderes. Nicht die Geist-Körper-Trennung. Die ist das Übliche. Das Ungewöhnliche an Ihrem Fall ist der Keil, der die Trennung zwischen Ihrem Geist und Ihrem Körper herbeigeführt hat, der physiologische Faktor, der hier mitspielt. Sie besitzen das, was wir in der Ausbildung feixend einen Expressauslöser genannt haben. Der flüchtigste Reiz, den eine Frau aussendet, führt bei ihnen zu einer Erektion.“
„Und was, sollte dass, mit der Stimme in meinem Kopf zu tun haben?“
„Alles hat mit dieser Stimme zu tun. Sie ist der Anfang und das Ende unserer Existenz.“
„Aber meine Stimme und dieser Drang, ständig Frauen ficken zu müssen, ist ein Problem, oder?“
„Seien Sie kein Narr. Die meisten Männer würden einen Hoden dafür hergeben, wenn sie dadurch die Fähigkeit erwerben könnten, so schnell eine Frau flachzulegen, wie sie es schaffen.“
„Wo liegt dann mein Problem?“
„Geist und Körper sind symbiotisch. Jeder ist für den anderen lebensnotwendig. Das ist der Grund, warum Sie eine Stimme hören. Es ist die Stimme Ihres Körpers, der sich rächt.“
Toby betrachtete seine Fingernägel. Ob er mal wieder einen Termin bei der Maniküre vereinbaren sollte? Er begann sich bei diesem Volltrottel von Therapeuten zu langweilen.
Den Psychiater überraschte es nicht, dass Toby ihm nicht zuhörte. Einem Patienten zu erklären, was nicht in Ordnung war, war als Therapie ungefähr so wirksam wie der Versuch, Warzen mit Zaubersprüchen zu beseitigen. Der Trick – und Dr. Greulich betrachtete es als Trick, eine Fähigkeit, die manche Analytiker besaßen und andere nicht -, war, in den Kopf des Patienten einzusteigen und in den Landschaften seines Geistes spazieren zu gehen. Dann konnte man die Auswege finden, falls es welche gab. Aber um das zu bewerkstelligen, musste man wissen, wie sie die Realität sahen. Und um zu verstehen, wie sie die Realität sahen, musste man wissen, wie ihre Realität aussah.
„Sie müssen mir etwas mehr erzählen, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe!“
„Über was?“, fragte Toby im gleichen, ausdruckslosen Ton. Er hatte sich noch nicht entschieden, wann er einen Termin für die Maniküre buchen sollte.
„Über diese Stimme. Ja, über die Stimme möchte ich mehr wissen.“
„Sie können Sie sich ja ansehen. Alle haben sie gesehen. Aber das ist schon lange her.“
„Sie weichen schon wieder aus. Das sind typische paranoide Fluchtversuche. Und obendrein sind sie kindisch. Wenn Sie mich nicht verstehen können oder wollen, dann müssen