»Graf Wronski«, sagte Anna.
»Ah! Ich glaube, wir kennen einander«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in gleichgültigem Tone und reichte ihm die Hand. »Hin bist du also mit der Mutter gefahren und zurück mit dem Sohne«, fuhr er, zu Anna gewendet, fort, wobei er sich einer so bedächtigen, sorgsamen Aussprache bediente, als ob jedes Wort ein Rubel wäre, den er wegschenkte. »Sie kommen gewiß von Ihrem Urlaub zurück?« fragte er Wronski und kehrte sich, ohne dessen Antwort abzuwarten, wieder in seinem scherzenden Tone zu seiner Frau hin: »Nun, sind in Moskau beim Abschied viele Tränen geflossen?«
Durch diese Frage an seine Frau wollte er Wronski zu verstehen geben, daß er allein zu bleiben wünsche, und berührte, zu ihm gewandt, seinen Hut. Aber Wronski wendete sich zu Anna Arkadjewna:
»Ich hoffe, daß ich die Ehre haben darf, Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.
Alexei Alexandrowitsch blickte mit seinen müden Augen Wronski an.
»Sehr angenehm«, versetzte er kühl. »Wir empfangen montags.« Nachdem er so das Gespräch mit Wronski endgültig zum Abschluß gebracht hatte, sagte er zu seiner Frau in jenem selben scherzhaften Tone: »Wie gut, daß ich gerade eine halbe Stunde freie Zeit hatte, um dich abzuholen, und dir dadurch meine Zärtlichkeit beweisen konnte.«
»Du hebst deine Zärtlichkeit denn doch gar zu stark hervor, als daß ich sie so sehr hoch veranschlagen könnte«, versetzte sie in demselben scherzhaften Tone und horchte dabei unwillkürlich auf den Schall der Schritte Wronskis, der hinter ihnen ging. ›Aber was kümmert das mich?‹ dachte sie und fragte ihren Mann, wie es dem kleinen Sergei in ihrer Abwesenheit ergangen sei.
»Oh, vorzüglich! Mariette sagt, er sei sehr artig gewesen und habe sich – ich muß dich da leider betrüben – gar nicht nach dir gegrämt, ganz anders als dein Gatte. Aber noch einmal merci, liebe Frau, daß du mir unerwartet diesen Tag geschenkt hast. Unser lieber Samowar wird ganz entzückt sein.« (Samowar nannte er die überall bekannte Gräfin Lydia Iwanowna, und zwar weil sie immer und über alles mögliche sich erhitzte und aufbrauste.) »Sie hat sich fortwährend nach dir erkundigt. Und weißt du, wenn ich mir erlauben darf, dir einen Rat zu geben, du solltest gleich heute zu ihr hinfahren. Sie nimmt sich ja alles so furchtbar zu Herzen. Zu allem, was sie so schon zu tun hat, interessiert sie sich jetzt auch noch für die Aussöhnung der Oblonskis.«
Die Gräfin Lydia Iwanowna war mit Annas Manne befreundet und bildete den Mittelpunkt des Petersburger Gesellschaftskreises, in dem Anna ihres Mannes wegen am meisten verkehrte.
»Ich habe ihr ja darüber geschrieben.«
»Gewiß, aber sie möchte alles ganz genau wissen. Besuche sie doch, wenn du nicht zu müde bist, liebe Frau. Nun also, dich wird Kondrati nach Hause fahren, und ich meinerseits fahre in die Komiteesitzung. Nun brauche ich doch nicht mehr allein zu Mittag zu speisen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, und zwar jetzt nicht mehr in dem scherzenden Tone. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich an dich gewöhnt habe ...«
Er drückte ihr lange die Hand und war ihr mit einem besonderen Lächeln beim Einsteigen in den Wagen behilflich.
32
Der erste, der Anna zu Hause entgegenkam, war ihr kleiner Sohn. Er sprang schon auf der Treppe auf sie zu, trotz allen Zurufen seiner Gouvernante, und schrie ganz wild vor Entzücken: »Mama, Mama!« Und sofort hängte er sich ihr an den Hals.
»Ich hab Ihnen doch gleich gesagt, es ist Mama!« rief er der Gouvernante zu. »Das hab ich gewußt!«
Aber auch der Sohn rief, gerade wie der Mann, bei Anna ein Gefühl hervor, das einige Ähnlichkeit mit dem der Enttäuschung hatte. Sie hatte ihn sich in der Erinnerung schöner ausgemalt, als er in Wirklichkeit war. Sie mußte erst wieder zur Wirklichkeit herabsteigen, um sich an ihm, so wie er war, zu freuen. Aber auch so, wie er wirklich war, machte er einen reizenden Eindruck mit seinen blonden Locken, den blauen Augen und den kräftigen, wohlgestalteten Beinchen in den straff sitzenden Strümpfen. Die Empfindung seiner Nähe und seine Liebkosungen riefen bei Anna beinahe ein physisches Lustgefühl hervor, und zugleich empfand sie eine Art von seelischer Beruhigung, als sie seinem treuherzigen, vertrauensvollen, liebevollen Blicke begegnete und seine unschuldigen Fragen hörte. Sie holte die Geschenke hervor, die Dollys Kinder ihr für ihn mitgegeben hatten, und er zählte ihm, was für ein liebes Mädchen die Moskauer Tanja sei, und daß diese Tanja schon lesen könne und sogar die anderen Kinder darin unterrichte.
»Da bin ich also wohl schlechter als sie?« fragte der kleine Sergei.
»Für mich bist du der Beste auf der ganzen Welt.«
»Das weiß ich«, antwortete Sergei lächelnd.
Anna war noch nicht damit fertig, ihren Kaffee zu trinken, als ihr die Gräfin Lydia Iwanowna gemeldet wurde. Die Gräfin war eine beleibte Dame von hohem Wuchs, mit ungesunder gelber Gesichtsfarbe und schönen, sinnenden, schwarzen Augen. Anna war ihr sehr zugetan; aber es war, als sähe sie sie heute zum ersten Mal mit all ihren Fehlern.
»Nun, wie steht's, liebe Freundin? Haben Sie ihnen den Ölzweig gebracht?« fragte die Gräfin Lydia Iwanowna, sobald sie ins Zimmer trat.
»Ja, es ist alles erledigt; aber es war auch alles nicht so arg, wie wir gedacht hatten«, antwortete Anna. »Überhaupt neigt meine belle-sœur sehr zu übereilten Schritten.«
Aber die Gräfin Lydia Iwanowna, die sich für alles interessierte, was sie nichts anging, hatte die Gewohnheit, niemals zuzuhören, wenn ihr über das, was sie doch anscheinend so interessierte, Auskunft gegeben wurde; sie unterbrach Anna:
»Ja, es gibt viel Kummer und viel Bosheit in der Welt; heute bin ich ganz durcheinander.«
»Was ist denn geschehen?« fragte Anna und bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Ich werde es allmählich müde, immer vergeblich für die Wahrheit eine Lanze zu brechen, und bin manchmal völlig erschöpft. Die Angelegenheit mit den Schwestern« (es war dies ein philanthropisches, religiös-patriotisches Unternehmen) »nähme einen vorzüglichen Gang; aber mit diesen Herren ist ja schlechterdings nichts anzufangen«, klagte die Gräfin mit spöttischer Ergebung in das Schicksal. »Sie haben den Grundgedanken erfaßt, ihn dann aber verunstaltet, und nun urteilen sie darüber in einer ganz kleinlichen, unverständigen Weise. Zwei oder drei, darunter Ihr Herr Gemahl, haben die ganze hohe Bedeutung dieser Angelegenheit richtig erfaßt, die anderen aber sind der weiteren Entwicklung nur hinderlich. Gestern schrieb mir Prawdin ...«
Prawdin war ein bekannter, im Ausland lebender Panslawist, und die Gräfin Lydia Iwanowna berichtete nun ausführlich über den Inhalt seines Briefes.
Dann erzählte sie noch von den Unannehmlichkeiten und Ränken, die sie bei ihren auf die Vereinigung der verschiedenen Kirchen gerichteten Bestrebungen erlebte, und empfahl sich darauf eiligst, da sie an diesem Tage noch einer Vereinssitzung beiwohnen und auch im slawischen Komitee tätig sein mußte.
›All das ist ja doch früher ganz ebenso gewesen; warum ist es mir nur früher nicht aufgefallen?‹ fragte sich Anna. ›Oder war sie gerade heute ungewöhnlich gereizt? Es ist doch auch wirklich komisch: ihr Ziel ist die Tugend, und sie ist eine Christin; aber trotzdem ist sie stets ergrimmt, und immer hat sie Feinde, und zwar immer wegen des Christentums und der Tugend.‹
Als die Gräfin fort war, kam eine andere Freundin, die Frau des Subdirektors, und erzählte allerlei Stadtneuigkeiten. Um drei Uhr ging auch diese, versprach jedoch, zum Mittagessen wiederzukommen. Alexei Alexandrowitsch war im Ministerium. Bis zum Mittagessen war Anna allein und verwandte diese Zeit darauf, beim Mittagessen ihres Sohnes zugegen zu sein (er aß für sich allein, nicht mit den Erwachsenen), ihre Sachen in Ordnung zu bringen und die Briefe und Karten, die sich auf ihrem Tische angehäuft hatten, zu lesen und teilweise zu beantworten.
Das