Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leo Tolstoi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188644
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und gestorben waren. Sie hatten darin ein Leben geführt, das Ljewin als geradezu ideal betrachtete und das er mit seiner Frau und seinen Kindern zu erneuern gehofft hatte.

      An seine Mutter konnte sich Ljewin kaum erinnern; aber die Vorstellung, die er sich von ihr machte, trat ihm an die Stelle einer geheiligten Erinnerung, und seine künftige Gattin sollte – so malte er sich das aus – eine Erneuerung jenes entzückenden, heiligen Frauenideals sein, das seine Mutter gewesen war.

      Die Liebe zu einer Frau konnte er sich gar nicht ohne die Ehe vorstellen, ja er stellte sich zuerst die Kinder vor und dann erst die Frau, die ihm die Kinder bescheren würde. Seine Begriffe vom Heiraten waren daher himmelweit verschieden von den Begriffen seiner meisten Bekannten, für die das Heiraten ein gewöhnliches Geschäft war wie viele andere. Für Ljewin war die Eheschließung die wichtigste Handlung des Lebens, von der das ganze Lebensglück abhing. Und jetzt mußte er diesem Glücke entsagen.

      Als er in die kleine Wohnstube, sein übliches Teezimmer, getreten war und sich nun mit einem Buche in seinen Lehnstuhl niederließ und Agafja Michailowna ihm den Tee brachte und dann mit ihrer herkömmlichen Redewendung: »Na, ich setze mich auch her, Väterchen!« sich auf einen Stuhl am Fenster setzte, da fühlte er, daß, so sonderbar es auch sein mochte, er von seinen Glücksträumereien noch nicht Abschied genommen hatte und daß er ohne ihre Verwirklichung nicht leben könne. Ob nun mit ihr oder mit einer anderen, aber geschehen mußte es. Er las in seinem Buche, dachte über das Gelesene nach, machte eine Pause darin, um auf Agafja Michailowna zu hören, die unermüdlich plauderte; aber gleichzeitig traten ihm allerlei Bilder aus seiner Wirtschaft und aus seinem künftigen Familienleben vor das geistige Auge, ohne Verknüpfung miteinander. Er fühlte, wie etwas in der Tiefe seiner Seele sich festgesetzt, dann sich auf engeren Raum beschränkt und sich nun endgültig zurechtgelagert hatte.

      Er hörte zu, wie Agafja Michailowna erzählte, daß dieser Prochor doch ein ganz gottvergessener Mensch sei und das Geld, das ihm Ljewin zum Ankauf eines Pferdes geschenkt habe, vertrinke, ohne jemals aus dem Rausche herauszukommen, und daß er seine Frau beinahe zu Tode geprügelt habe. Er hörte zu und las in dem Buche und erinnerte sich der ganzen Gedankenreihe, die dieses Lesen das vorige Mal in ihm wachgerufen hatte. Es war Tyndalls Buch über die Wärme. Er erinnerte sich, wie ihm an Tyndall mißfallen hatte, daß er so selbstgefällig von seiner Geschicklichkeit im Experimentieren spreche und keiner philosophischen Anschauung fähig sei. Und plötzlich kam ihm ein freudiger Gedanke dazwischen: ›In zwei Jahren werde ich in der Herde zwei Holländer Tiere haben; auch Pawa selbst kann noch hinreichend frisch sein; dazu zwölf junge Nachkommen von Berkut; da kann ich günstigenfalls die drei zur Kreuzung benutzen, – wundervoll!‹ Er griff wieder nach dem Buche. ›Nun gut, Elektrizität und Wärme sollen ein und dasselbe sein; aber kann man denn, wenn es sich um die Lösung einer Aufgabe auf diesem Gebiete handelt, in einer Gleichung die eine Größe für die andere setzen? Nein. Also wie steht es damit? Einen gewissen Zusammenhang zwischen allen Naturkräften spürt man ja auch so schon durch den bloßen Instinkt. – Besonders hübsch wird es sein, wenn Pawas Kalb erst eine rotscheckige Kuh sein wird und vielleicht ebenso die ganze Herde, die ich aus der Kreuzung mit diesen dreien erzielen will. – Prächtig! Dann werde ich mit meiner Frau und unseren Gästen die Herde besehen. – Meine Frau sagt: »Dieses Kalb hier haben Konstantin und ich wie ein Kind großgezogen.« »Wie kann Sie das nur so interessieren?« sagt einer der Gäste. »Alles, was ihn interessiert, interessiert auch mich.« Ja, aber wer wird sie sein?‹ Hier mußte er an das denken, was ihm in Moskau begegnet war. – ›Nun, was ist da zu machen? Meine Schuld ist es nicht gewesen. Aber jetzt soll alles einen neuen Gang nehmen. Es ist Torheit, zu glauben, daß das wirkliche Leben dem entgegenstünde und daß die Vergangenheit dem entgegenstünde. Ich will alle meine Kraft daransetzen, um ein besseres, ein weit besseres Leben zu führen.‹ Er hob den Kopf in die Höhe und überließ sich seinen Gedanken. Die alte Laska, die mit ihrer Freude über seine Ankunft noch nicht ganz zurechtgekommen und auf den Hof gerannt war, um sich auszubellen, kam nun schwanzwedelnd zurück, wobei sie den Geruch von frischer Luft mit ins Zimmer brachte, lief zu ihm hin, schob den Kopf unter seine Hand und verlangte mit kläglichem Winseln, daß er sie liebkosen möchte.

      »Nur, daß sie nicht sprechen kann«, sagte Agafja Michailowna. »So ein Tier! Sie versteht, daß ihr Herr zurückgekommen und traurig ist.«

      »Wieso meinst du, daß ich traurig bin?«

      »Wie werde ich denn das nicht sehen, Väterchen? Wo ich doch schon so lange hier bin, muß ich doch meine Herrschaft kennen. Ich bin doch von Kindesbeinen an hier bei der Herrschaft aufgewachsen. Aber grämen Sie sich nicht, Väterchen! Wenn man nur gesund ist und ein reines Gewissen hat!«

      Ljewin blickte sie unverwandt an, ganz erstaunt darüber, wie richtig sie seine Gedanken erraten hatte.

      »Wie ist's, soll ich Ihnen noch ein bißchen Tee bringen?« fragte sie, nahm seine Tasse und ging damit hinaus.

      Laska schob immer noch ihren Kopf unter seiner Hand hin und her. Er streichelte sie, und sie rollte sich sofort zu seinen Füßen rund zusammen, indem sie den Kopf auf die eine ausgestreckte Hinterpfote legte. Und um auszudrücken, daß jetzt alles in schönster Ordnung sei, öffnete sie ein wenig das Maul, schmatzte ein paarmal auf, legte die feuchten Lippen bequemer um die alten Zähne zurecht und verstummte in glückseliger Ruhe. Ljewin hatte aufmerksam diese letzten Bewegungen des Tieres beobachtet.

      ›Ganz, wie ich es auch mache!‹ sagte er zu sich selbst. ›Ganz, wie ich es auch mache! Ich will es mich nicht anfechten lassen. Es wird noch alles gut werden.‹

      28

      Am Morgen nach dem Balle schickte Anna Arkadjewna ihrem Manne ein Telegramm, daß sie am selben Tage von Moskau abfahren werde.

      »Nein, ich muß fahren, ich muß!« sagte sie, um diese plötzliche Änderung ihrer Anordnungen zu erklären, zu ihrer Schwägerin in einem Tone, als ob sie zu Hause so viel vor hätte, daß sie es gar nicht alles aufzählen könnte. »Nein, am besten fahre ich gleich heute.«

      Stepan Arkadjewitsch aß nicht zu Hause zu Mittag, hatte aber versprochen, um sieben Uhr zurück zu sein, um seine Schwester nach dem Bahnhof zu begleiten.

      Auch Kitty war nicht zum Mittagessen gekommen; sie hatte ein Briefchen geschickt, daß sie Kopfschmerzen habe. Dolly und Anna speisten allein mit den Kindern und der Engländerin. Kam es nun daher, daß Kinder unbeständig sind, oder daher, daß sie feinfühlig sind und diese hier es herausfühlten, daß Anna heute eine ganz andere war als an jenem Tage, da sie sie so liebgewonnen hatten, und sich nicht mehr für sie interessierte: genug, sie hatten die Lust, mit der Tante zu spielen, ganz verloren, auch mit der Liebe zu ihr war's zu Ende, und daß Anna nun abreise, machte ihnen gar keinen Eindruck. Anna war den ganzen Vormittag mit Vorbereitungen zu ihrer Abreise beschäftigt gewesen. Sie hatte kurze Abschiedsbriefe an ihre Moskauer Bekannten geschrieben, ihre Ausgaben vermerkt und ihre Sachen gepackt. Überhaupt hatte Dolly den Eindruck gehabt, daß Anna sich nicht in ruhiger Seelenstimmung, sondern in jener nervösen Aufregung befand, die Dolly nur zu gut von sich selbst kannte, ein Zustand, der sich nicht ohne besondere Ursache einstellt und hinter dem sich meistenteils eine Unzufriedenheit mit sich selbst verbirgt. Nach dem Mittagessen begab sich Anna in ihr Zimmer, um sich umzukleiden, und Dolly ging mit ihr.

      »Du bist ja heute so eigentümlich?« sagte Dolly zu ihr.

      »Ich? Findest du das? Ich bin weiter nicht eigentümlich, mir ist nur nicht recht wohl. So etwas kommt manchmal bei mir vor: ich möchte in einem fort weinen. Das ist sehr dumm; aber es geht vorüber«, sagte Anna schnell und beugte ihr errötendes Gesicht über eine elegante Reisetasche, in die sie eine Nachthaube und einige Batisttaschentücher einpackte. Ihre Augen hatten einen besonderen Glanz und füllten sich fortwährend mit Tränen. »Zuerst wollte ich gar nicht von Petersburg abreisen, und nun möchte ich am liebsten von hier nicht wieder fort.«

      »Du bist hergekommen und hast hier ein gutes Werk vollbracht«, sagte Dolly, sie aufmerksam betrachtend.

      Anna blickte sie mit tränenfeuchten Augen an.

      »Sage das nicht, Dolly! Ich habe nichts getan und habe nichts tun können.