»Wie wäre es mit einer Reise ins Ausland?« fragte der Hausarzt.
»Ich bin ein Gegner solcher Reisen ins Ausland. Und beachten Sie, bitte, dies: Wenn wirklich der Beginn eines tuberkulösen Prozesses vorliegt, was wir nicht wissen können, so hilft eine Reise ins Ausland nichts. Es ist unbedingt ein Mittel erforderlich, das die Ernährung fördert und nicht schädlich wirkt.«
Und nun setzte der berühmte Arzt seinen Plan einer in Moskau durchzuführenden Kur mit Sodener Brunnen auseinander; bei der Entscheidung für diesen Brunnen war offenbar der Hauptgesichtspunkt der, daß er nicht schaden könne.
Der Hausarzt hörte ihm aufmerksam und achtungsvoll bis zu Ende zu. Dann bemerkte er:
»Zugunsten einer Reise ins Ausland möchte ich doch auf die Veränderung der gewohnten Lebensweise hinweisen sowie auf die Entfernung aus einer Umgebung, die mancherlei Erinnerungen wachruft. Und dann wünscht es die Mutter«, fügte er hinzu.
»Ah so! Nun, wenn es so ist, schön, dann mögen sie meinetwegen reisen. Nur werden diese deutschen Pfuscher Schaden anrichten. Die Leute müssen sich streng an unsere Weisungen halten. – Nun, dann mögen sie reisen.«
Er sah wieder nach der Uhr.
»Oh, es wird für mich Zeit!« Und er ging zur Tür.
Der berühmte Arzt erklärte der Fürstin (sein Gefühl für ärztlichen Anstand veranlaßte ihn dazu), er müsse die Kranke noch einmal sehen.
»Wie, noch eine Untersuchung?« rief die Mutter erschrocken.
»O nicht doch, ich brauche nur noch ein paar Einzelheiten, Fürstin.«
»Dann bitte, kommen Sie!«
Von dem Arzte begleitet, ging sie zu Kitty. Mit eingesunkenen, geröteten Wangen und einem eigentümlichen Glanz in den Augen infolge der ausgestandenen Schmach, stand Kitty mitten im Zimmer. Beim Eintritt des Arztes wurde sie dunkelrot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre ganze Krankheit und deren ärztliche Behandlung erschienen ihr als etwas so Dummes, als etwas geradezu Lächerliches. Diese Bemühungen der Ärzte kamen ihr ebenso lächerlich vor, wie wenn jemand die Scherben einer zerbrochenen Vase wieder zusammensetzen wollte. Ihr Herz war zerbrochen. Und da wollten sie es mit Pillen und Pulvern heilen? Aber sie durfte die Mutter nicht kränken, um so weniger, da diese sich schuldig fühlte.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Prinzessin!« sagte der berühmte Arzt.
Er setzte sich lächelnd ihr gegenüber, fühlte ihren Puls und begann wieder seine lästigen Fragen zu stellen. Sie antwortete ihm; aber plötzlich stand sie zornig auf.
»Entschuldigen Sie, aber das hat wirklich keinen Zweck. Sie fragen mich zum dritten Mal dasselbe.«
Der berühmte Arzt zeigte keine Spur von Empfindlichkeit.
»Krankhafte Gereiztheit«, bemerkte er der Fürstin gegenüber, als Kitty hinausgegangen war. »Übrigens bin ich fertig.«
Und nun setzte er der Fürstin, der er damit zu verstehen gab, daß er sie als eine Dame von ganz ungewöhnlicher geistiger Begabung betrachte, den Zustand der Prinzessin in wissenschaftlicher Form auseinander und schloß mit einer genauen Anweisung, wie der Brunnen getrunken werden müsse, der doch in Wirklichkeit vollständig unnütz war. Auf die Frage, ob wohl eine Reise ins Ausland zweckmäßig sein werde, versank der Arzt in tiefes Nachdenken, wie wenn es sich um die Lösung eines sehr schwierigen Rätsels handele. Endlich verkündete er die Entscheidung, zu der er gelangt war: sie sollten reisen, möchten sich aber nicht den deutschen Pfuschern anvertrauen, sondern sich in allem an ihn wenden.
Es war, als hätte sich mit dem Wegfahren des Arztes etwas Erfreuliches ereignet. Die Mutter war, als sie zu ihrer Tochter zurückkehrte, wieder wesentlich heiterer geworden, und Kitty stellte sich, als sei bei ihr das gleiche der Fall. Sie sah sich jetzt häufig, fast dauernd, dazu genötigt, sich zu verstellen.
»Wirklich, ich bin gesund, maman. Aber wenn Sie gern reisen möchten, so könnten wir es ja tun«, sagte sie, und um ihr Interesse für die bevorstehende Reise an den Tag zu legen, begann sie von den dazu nötigen Vorbereitungen zu sprechen.
2
Bald nachdem der Arzt fort war, kam Dolly. Sie wußte, daß an diesem Tage eine Beratung der beiden Ärzte stattfinden sollte, und obwohl sie erst vor kurzem vom Wochenbett aufgestanden war (sie war gegen Ende des Winters von einem Mädchen entbunden worden) und obwohl sie viel eigenen Kummer und eigene Sorgen hatte, verließ sie ihr Baby und ein anderes erkranktes Töchterchen und kam, um sich nach Kittys Schicksal zu erkundigen, das sich heute entscheiden sollte.
»Nun, wie steht es?« fragte sie, als sie in den Salon trat; sie hatte den Hut gar nicht abgenommen. »Ihr seid ja alle so fröhlich. Da steht es gewiß gut?«
Man versuchte nun, ihr zu erzählen, was der Arzt gesagt habe; aber obgleich dieser sehr lange und in wohlgesetzter Rede gesprochen hatte, erwies es sich doch als ein Ding der Unmöglichkeit, das, was er nun eigentlich gesagt hatte, wiederzugeben. Das Interessanteste war ohne Zweifel, daß die Reise ins Ausland beschlossene Sache war.
Dolly mußte unwillkürlich seufzen bei dem Gedanken, daß ihre beste Freundin, ihre Schwester, nun reisen sollte. Und ihr eigenes Leben war so wenig heiter. Ihr Verhältnis zu Stepan Arkadjewitsch hatte sich nach der Versöhnung noch unwürdiger gestaltet. Die von Anna vorgenommene Zusammenkittung hatte sich nicht als dauerhaft erwiesen, und die Eintracht des Familienlebens war an derselben Stelle von neuem zerbrochen. Etwas Bestimmtes lag nicht vor, aber Stepan Arkadjewitsch war fast nie zu Hause; Geld war gleichfalls kaum je vorhanden, und Dolly wurde beständig von dem Verdacht gemartert, daß er ihr wohl wieder untreu sei; nur suchte sie diesen Verdacht jetzt absichtlich zu verscheuchen, um nicht von neuem die Qualen der Eifersucht durchmachen zu müssen. Der erste Anfall von Eifersucht konnte, nachdem er einmal überstanden war, sich allerdings nicht in gleicher Heftigkeit wiederholen, und nicht einmal die tatsächliche Entdeckung einer neuen Untreue hätte auf sie so wirken können wie das erste Mal. Eine solche Entdeckung hätte aber doch eine Störung in ihre gewohnte häusliche Tätigkeit hineingebracht, und so ließ sie sich denn betrügen und verachtete ihn und noch mehr wegen dieser Schwäche sich selbst. Überdies quälten sie fortwährend allerlei Sorgen um die große Familie: bald wollte die Ernährung des Säuglings nicht recht vonstatten gehen, bald ging ein Kindermädchen ab, bald wurde, wie das gerade jetzt der Fall war, eines der Kinder krank.
»Nun, wie geht es bei dir zu Hause?« fragte die Mutter.
»Ach, maman, wir haben viel Kummer. Lilly ist krank geworden, und ich fürchte, es ist Scharlach. Darum bin ich gleich jetzt hergekommen, um mich nach Kitty zu erkundigen; denn wenn die Krankheit sich wirklich zu Scharlach entwickeln sollte, was Gott verhüten möge, so kann ich das Haus nicht mehr verlassen.«
Auch der alte Fürst kam jetzt, nachdem der Arzt weggefahren war, aus seinem Arbeitszimmer, hielt seiner Tochter Dolly seine Backe zum Kusse hin, wechselte mit ihr ein paar Worte und wandte sich dann an seine Frau:
»Was habt ihr denn beschlossen? Werdet ihr reisen? Nun, und ich? Was wollt ihr mit mir anfangen?«
»Ich möchte meinen, du bleibst am besten hier, Alexander«, antwortete seine Frau.
»Wie ihr wollt.«
»Maman, warum soll denn Papa nicht mit uns fahren?« fragte Kitty. »Dann hat er mehr Vergnügen und wir auch.«
Der alte Fürst stand auf und strich mit der Hand freundlich über Kittys Haar. Sie hob das Gesicht in die Höhe und blickte, sich zu einem Lächeln zwingend, ihn an. Sie hätte immer die Empfindung, daß er sie besser als alle anderen in der Familie verstehe, obgleich er meist nur wenig mit ihr sprach. Als die Jüngste war sie des Vaters Lieblingstochter, und es schien ihr, als mache seine Liebe zu ihr ihn scharfblickend. Als ihr Blick jetzt seinen guten, blauen Augen begegnete, die sie prüfend ansahen, da war es ihr, als durchschaue er sie durch und durch und verstehe alle ihre traurigen