Dieses Schweigen, obwohl es nicht länger als eine Minute gedauert hatte, wurde ihm gar zu drückend. Um es zu unterbrechen und zu zeigen, daß er nicht aufgeregt sei, tat er sich Gewalt an und wandte sich zu Golenischtschew:
»Ich habe wohl schon einmal das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zusammenzutreffen«, sagte er, blickte aber dabei unruhig bald zu Anna, bald zu Wronski hin, um sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdruckes entgehen zu lassen.
»Gewiß! Wir haben uns bei Rossi getroffen; Sie besinnen sich: bei der Abendgesellschaft, wo dieses italienische Fräulein, die neue Rachel, vortrug«, antwortete Golenischtschew in munterem Ton; er wandte seine Augen ohne das geringste Bedauern von dem Gemälde weg und blickte den Maler an.
Als er jedoch bemerkte, daß Michailow ein Urteil über sein Bild erwartete, sagte er:
»Ihr Bild ist sehr fortgeschritten, seit ich es zum letzten Male gesehen habe. Und wie damals, so hat auch jetzt die Figur des Pilatus für mich etwas außerordentlich Überraschendes. So gewinnt man Verständnis für diesen Menschen, einen ganz braven, wackeren Gesellen, aber eingefleischten Beamten, der nicht weiß, was er tut. Aber mir scheint ...«
Michailows ganzes bewegliches Gesicht strahlte plötzlich auf; seine Augen leuchteten. Er wollte etwas sagen; aber er konnte vor Aufregung nicht reden und stellte sich, als ob er husten müsse. Wie gering er auch Golenischtschews Kunstverständnis einschätzte, wie unbedeutend auch dessen richtige Bemerkung über den wohlgetroffenen Beamtencharakter im Gesicht des Pilatus an sich war, wie verletzend es ihm auch sein konnte, daß jener zuerst eine so geringfügige Bemerkung aussprach und von wichtigeren Dingen nichts sagte: trotzdem war Michailow von dieser Bemerkung ganz entzückt. Er selbst dachte über die Figur des Pilatus genau dasselbe, was Golenischtschew soeben gesagt hatte. Und der Umstand, daß diese Beobachtung nur eine einzige unter vielen anderen Beobachtungen war, die, wie Michailow fest überzeugt war, alle ebenso zutreffend sein würden, dieser Umstand verringerte in seinen Augen den Wert der Bemerkung Golenischtschews in keiner Weise. Er faßte um dieser Bemerkung willen eine Neigung für Golenischtschew und ging aus seinem Zustande der Niedergeschlagenheit unvermittelt in den der Glückseligkeit über. Sogleich gewann sein ganzes Bild in seinen Augen Leben und ließ die ganze, unsagbar kunstvolle Organisation erkennen, wie sie allem Lebendigen eigen ist. Michailow setzte wieder dazu an, zu sagen, daß er den Pilatus ganz ebenso aufgefaßt habe; aber seine zitternden Lippen versagten ihm den Dienst, und er vermochte es nicht auszusprechen. Wronski und Anna sagten ebenfalls etwas in jenem gedämpften Ton, in dem man gewöhnlich vor ausgestellten Bildern zu sprechen pflegt, teils um den Künstler nicht zu verletzen, teils um nicht laut eine Dummheit zu sagen, die einem ja bei Gesprächen über Kunst so leicht über die Lippen kommen kann. Michailow hatte die Empfindung, daß sein Bild auch auf sie Eindruck gemacht habe. Er trat zu ihnen.
»Wie wundervoll der Ausdruck des Christuskopfes ist!« sagte Anna. Von allem, was sie sah, gefiel ihr dieser Ausdruck am meisten; sie fühlte, daß dies der eigentliche Mittelpunkt des Gemäldes sei und dieses Lob daher dem Künstler besonders angenehm sein müsse. »Man sieht, daß ihm Pilatus leid tut.«
Dies war wieder eine von jenen unzähligen zutreffenden Beobachtungen, die man an seinem Gemälde und besonders an der Figur Christi machen konnte. Die Dame hatte gesagt, Pilatus tue Christus leid. In dem Gesichtsausdruck Christi muß ja auch der Ausdruck des Mitleids liegen, weil in ihm der Ausdruck der Liebe liegt und der Ausdruck einer himmlischen Ruhe und der Bereitschaft zum Tode und des Bewußtseins, daß weiteres Reden nutzlos ist. Natürlich muß in dem Gesicht des Pilatus der Ausdruck der Denkweise eines Beamten liegen und in dem Gesicht Christi der Ausdruck des Mitleides, da eben der eine die Verkörperung des fleischlichen Lebens ist, der andere die Verkörperung des geistigen Lebens. All diese und viele andere Gedanken huschten Michailow durch den Kopf. Und wieder erstrahlte sein Gesicht vor Entzücken.
»Ja, und wie diese Gestalt ausgeführt ist, wieviel Luft zwischen ihr und den anderen Figuren ist! Als könnte man um sie herumgehen«, sagte Golenischtschew, der durch diese Bemerkung offenbar zeigen wollte, daß er mit dem geistigen Gehalt und der Idee dieser Figur nicht sonderlich zufrieden sei.
»Ja, eine erstaunliche Meisterschaft!« bemerkte Wronski. »Wie sich diese Gestalten vom Hintergrunde abheben! Das nennt man Technik!« fügte er, zu Golenischtschew gewendet, hinzu und spielte damit auf ein früheres Gespräch zwischen ihnen beiden an, bei dem Wronski geäußert hatte, er verzweifle daran, sich eine gute Technik zu eigen zu machen.
»Ja gewiß, erstaunlich!« stimmten Golenischtschew und Anna bei.
Trotz der gehobenen Stimmung, in der sich Michailow befand, ließ diese Bemerkung über die Technik sein Herz schmerzlich zusammenzucken; ärgerlich blickte er Wronski an und machte plötzlich ein sehr finsteres Gesicht. Er hatte dieses Wort Technik oft gehört und schlechterdings nicht verstanden, was die Leute eigentlich damit sagen wollten. Er wußte, daß sie unter diesem Wort eine mechanische Fähigkeit zu malen und zu zeichnen verstanden, die von dem Gegenstand des Bildes ganz unabhängig ist. Oft hatte er, wie auch bei dem jetzigen Lob, gemerkt, daß die Leute die Technik dem inneren Wert gegenüberstellten, als ob es möglich wäre, etwas an sich Schlechtes gut zu malen. Er wußte, daß viel Aufmerksamkeit und Vorsicht vonnöten war, um, wenn man von dem vorschwebenden Idealbilde die Hüllen abnahm, das Kunstwerk selbst nicht zu beschädigen, und um auch wirklich alle Hüllen herunterzubekommen; aber das war eben die Kunst des Malens – von Technik war dabei gar nicht die Rede. Wenn das, was er mit dem geistigen Auge sah, sich ebenso einem kleinen Kinde oder seiner Köchin offenbarte, so würden auch sie verstehen, was sie gesehen hatten, herauszuschälen. Aber anderseits würde der erfahrenste, geschickteste Techniker der Malerei durch die bloße mechanische Fähigkeit nicht imstande sein, etwas zu malen, wenn sich ihm nicht vorher der Inhalt in klarer Umgrenzung geoffenbart hätte. Außerdem war Michailow sich bewußt, daß, wenn man nun einmal von Technik reden wolle, man gerade ihn in dieser Hinsicht nicht loben könne. In allem, was er malte und gemalt hatte, erkannte er Mängel, die ihm in den Augen weh taten, Mängel, die von der Unachtsamkeit herrührten, mit der er die Hüllen abgenommen hatte, und die er jetzt nicht mehr verbessern konnte, ohne das ganze Kunstwerk zu verderben. Und auch bei diesem Bilde sah er an fast allen Gestalten und Gesichtern Reste nicht vollständig abgenommener Hüllen, die den Wert des Bildes minderten.
»In einem Punkte könnte man anderer Ansicht sein, wenn Sie mir eine solche Bemerkung gestatten wollen ...«, begann Golenischtschew.
»Aber es freut mich sehr, und ich bitte Sie herzlich«, erwiderte Michailow, gezwungen lächelnd.
»Ich meine: daß Christus bei Ihnen ein Menschgott ist, und nicht ein Gottmensch. Übrigens weiß ich recht wohl, daß Sie das gerade beabsichtigt haben.«
»Ich kann keinen Christus malen, der nicht in meiner Seele vorhanden ist«, versetzte Michailow mit finsterem Gesichte.
»Ja, aber in diesem Falle ... wenn Sie mir gestatten, meinen Gedanken auszusprechen ... Ihr Bild ist ja so vortrefflich, daß meine Bemerkung ihm keinen Abbruch tun kann, und dann ist das ja auch nur meine persönliche Meinung. Bei Ihnen ist der ganze Vorgang ein anderer geworden; das Motiv selbst ist ein anderes. Aber nehmen wir meinetwegen Iwanow als Beispiel. Ich meine, statt Christus auf die Stufe einer bloßen historischen Persönlichkeit zu stellen, hätte Iwanow besser getan, sich ein anderes historisches Thema, ein frisches, unangerührtes, auszusuchen.«
»Aber wenn dies doch das erhabenste Thema ist, das sich der Kunst darbietet?«
»Wenn man nur suchen will, finden sich schon noch andere. Aber die Sache ist die, daß ein Kunstwerk keinen Streit und keine Auseinandersetzungen vertragen kann. Und bei Iwanows Bild entsteht für den Gläubigen und für den Ungläubigen die Frage: ist das ein Gott oder kein Gott? Und dieser Zweifel zerstört die Einheitlichkeit der Wirkung.«
»Wieso?« erwiderte Michailow. »Mir scheint, daß für gebildete Leute darüber kein Streit mehr möglich ist.«
Golenischtschew stimmte diesem Satze nicht zu, und indem er an dem vorher von