»Na, und was hast du denn auch für Mühe damit? Zwei Tage! Und er ist ein so nettes, verständiges altes Männchen. Er zieht dir diesen Zahn so, daß du gar nichts davon merkst.«
Als Ljewin der ersten Messe beiwohnte, versuchte er, in seiner Seele die Erinnerung aus seiner Jugendzeit wieder lebendig zu machen, die Erinnerungen an jene Zeit starken religiösen Empfindens, die er von seinem sechzehnten bis zu seinem siebzehnten Lebensjahre durchgemacht hatte; aber er gelangte sehr schnell zu der Überzeugung, daß das für ihn völlig unmöglich sei. Dann versuchte er, dieses ganze Kirchenwesen wie einen leeren, bedeutungslosen Brauch anzusehen, ähnlich dem des Abstattens von Visiten; aber er fühlte, daß er sich auch auf diesen Standpunkt nicht zu stellen vermochte. Wie die Mehrzahl seiner Alters- und Standesgenossen befand sich Ljewin der Religion gegenüber in einer sehr unbestimmten Stellung. Zu glauben vermochte er an die Lehre der Kirche nicht, er war aber gleichzeitig auch nicht fest davon überzeugt, daß sie so ganz und gar unrichtig sei. Da er deshalb nicht imstande war, an die Bedeutsamkeit dessen, was er jetzt tat, zu glauben, und ebensowenig, es mit Gleichgültigkeit wie eine leere Förmlichkeit anzusehen, so wurde er während dieser ganzen Vorbereitungszeit ein Gefühl der Verlegenheit und Scham darüber nicht los, daß er etwas tue, wofür er kein Verständnis habe, also, wie ihm eine innere Stimme sagte, etwas Unwahrhaftiges und Schlechtes.
Während des Gottesdienstes hörte er bald auf die Gebete hin und bemühte sich, ihnen eine Bedeutung unterzulegen, die sich mit seinen Anschauungen in Übereinstimmung bringen ließe, bald wieder, wenn er merkte, daß er für diese Gebete doch kein Verständnis habe und sie ablehnen müsse, gab er sich Mühe, nicht hinzuhören, und beschäftigte sich mit seinen Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die ihm, während er so müßig in der Kirche dastand, mit besonderer Lebhaftigkeit durch den Kopf gingen.
Er wohnte der Mittagsmesse, der Nachmittagsmesse und dem Abendgebete bei und kam am anderen Tage, nachdem er früher als gewöhnlich aufgestanden war, ohne Tee getrunken zu haben, um acht Uhr wieder in die Kirche, um das Morgengebet anzuhören und zu beichten.
In der Kirche war niemand anwesend außer einem bettelnden Invaliden, zwei alten Weibern und dem Kirchenpersonal.
Der junge Diakon, dessen Gestalt sich in dem dünnen Amtskleide scharf abhob, begrüßte ihn, trat dann sofort zu einem Tischchen an der Wand und begann die Gebete zu lesen. Während des Lesens und besonders bei der häufigen, schnellen Wiederholung derselben Worte: »Herr, erbarme dich!«, die sich dabei, stark verstümmelt, wie ein einziges Wort anhörten, hatte Ljewin die Empfindung, als ob seine Verstandeswelt verschlossen und versiegelt sei und er sie jetzt nicht anrühren und in Bewegung setzen dürfe, um sie nicht völlig in Verwirrung zu bringen; und daher fuhr er, hinter dem Diakon stehend, fort, sich seinen eigenen Gedanken zu überlassen, ohne auf die Gebete hinzuhören und aufzumerken. ›Ganz erstaunlich ist doch, wie ausdrucksvoll ihre Hand ist‹, dachte er, in Erinnerung daran, wie sie gestern zusammen an einem Ecktisch gesessen hatten. Sie hatten, wie fast immer während dieser ganzen Zeit, nicht recht gewußt, wovon sie reden sollten, und so hatte sie ihre Hand auf den Tisch gelegt und sie abwechselnd auf und zu gemacht und selbst gelacht, indem sie die Bewegung ihrer Hand beobachtete. Er dachte daran, wie er ihre Hand geküßt und dann die zusammenlaufenden Linien auf der rosigen Innenseite betrachtet hatte. ›Wieder dieses verkürzte »Herr, erbarme dich!«‹ dachte Ljewin, indem er sich bekreuzte, verneigte und dabei die geschmeidigen Bewegungen des Diakons beobachtete. ›Dann nahm sie meine Hand und betrachtete die Linien darin. »Du hast eine prachtvolle Hand«‹, sagte sie. Und nun blickte er auf seine Hand und dann auf die kurzfingerige Hand des Diakons. ›Ja, jetzt ist es bald zu Ende‹, hoffte er. ›Nein, ich glaube, es geht noch einmal von Anfang los‹, dachte er, indem er nach den Gebeten hinhörte. ›Nein, es ist doch zu Ende; da, er machte ja schon eine Verbeugung bis zur Erde. Das ist immer dicht vor dem Schluß.‹
Der Diakon nahm mit der Hand, die in dem Plüschaufschlag des Ärmels steckte, scheinbar ohne es selbst zu bemerken, einen Dreirubelschein in Empfang, sagte, er werde Ljewin in die Liste eintragen, und ging in das Allerheiligste, wobei seine neuen Stiefel auf den Steinplatten der leeren Kirche einen kräftigen Klang erweckten. Eine Minute darauf blickte er von dort wieder hervor und winkte Ljewin mit der Hand. Die bisher verschlossene Verstandeswelt in Ljewins Kopfe wollte jetzt anfangen sich zu regen; aber er scheuchte sie eiligst zurück. ›Es wird sich schon irgendwie machen‹, dachte er und ging zum Altar. Er stieg die Stufen hinan, wandte sich rechts und erblickte den Geistlichen. Dieser, ein altes Männchen mit dünnem, halb ergrautem Barte und müden, gutmütigen Augen, stand am Chorpult und blätterte in der Agende. Er verneigte sich leicht vor Ljewin und begann sogleich in dem herkömmlichen Tone die Gebete vorzulesen. Als er damit fertig war, machte er eine Verbeugung bis zur Erde und wandte sich dann mit dem Gesicht zu Ljewin.
»Christus steht hier unsichtbar vor Ihnen und empfängt Ihre Beichte«, begann er, auf das Kruzifix weisend. »Glauben Sie an alles, was uns die heilige apostolische Kirche lehrt?« fuhr er fort, indem er die Augen von Ljewins Gesicht wegwandte und die Hände unter dem Schultertuche faltete.
»Ich habe an allem gezweifelt und tue es noch«, antwortete Ljewin; der Klang seiner Stimme mißfiel ihm selbst. Dann schwieg er.
Der Geistliche wartete einige Sekunden, ob er vielleicht noch etwas hinzufügen wolle; dann schloß er die Augen und sagte mit ziemlicher Geschwindigkeit in der Mundart des Gouvernements Wladimir, die viele o enthält:
»Das Zweifeln ist der menschlichen Schwachheit eigen; aber wir müssen beten, damit der barmherzige Gott uns fest mache. Welche besonderen Sünden haben Sie begangen?« fuhr er ohne die geringste Pause fort, wie wenn er darauf bedacht wäre, keine Zeit zu verlieren.
»Meine größte Sünde ist der Zweifel. Ich zweifle an allem und befinde mich fast immer in Zweifel.«
»Das Zweifeln ist der menschlichen Schwachheit eigen«, sagte der Geistliche noch einmal wie kurz zuvor. »Woran zweifeln Sie denn hauptsächlich?«
»Ich zweifle an allem. Ich zweifle manchmal sogar an dem Dasein Gottes«, antwortete Ljewin unwillkürlich und erschrak selbst über die Unschicklichkeit dessen, was er gesagt hatte. Aber auf den Geistlichen machten Ljewins Worte anscheinend keinen besonderen Eindruck.
»Wie kann denn jemand an dem Dasein Gottes zweifeln?« erwiderte er unverzüglich mit einem ganz leisen Lächeln.
Ljewin schwieg.
»Wie können Sie denn an dem Schöpfer zweifeln, wenn Sie seine Schöpfung anschauen?« fuhr der Geistliche in schneller, gewohnheitsmäßiger Redeweise fort. »Wer hat das Himmelsgewölbe mit Sternen geschmückt? Wer hat die Erde in ihre Schönheit gekleidet? Wie ist das denkbar ohne einen Schöpfer?« sagte er und blickte Ljewin fragend an.
Ljewin fühlte, daß es unpassend wäre, sich auf eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Geistlichen einzulassen, und gab daher nur eine Antwort, die direkt der Frage entsprach.
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Sie wissen es nicht? Wie können Sie dann also daran zweifeln, daß Gott alles geschaffen hat?« erwiderte der Geistliche mit heiterer Verwunderung.
»Ich verstehe nichts davon«, antwortete Ljewin errötend; er fühlte, daß seine Antworten dumm waren und in einer solchen Lage nicht anders als dumm sein konnten.
»Beten Sie zu Gott und bitten Sie ihn. Sogar die heiligen Väter wurden von Zweifeln