Er dachte in seiner Aufregung nicht einmal daran, Betsy aus seiner Wohnung hinauszubegleiten; er vergaß alle seine Entschlüsse; er ließ nicht fragen, wann er Anna sprechen könne und wo ihr Mann sei; – er fuhr sofort, unverzüglich zu Karenins. Er stürmte die Treppe hinauf, ohne irgend jemand oder irgend etwas zu sehen, und trat schnellen Schrittes, indem er sich nur mühsam enthielt, geradezu zu laufen, in ihr Zimmer. Und ohne daran zu denken und sich darum zu kümmern, ob sonst noch jemand im Zimmer sei oder nicht, umarmte er sie und bedeckte ihr Gesicht, ihre Hände und ihren Hals mit Küssen.
Anna hatte sich auf dieses Wiedersehen vorbereitet gehabt und überlegt, was sie ihm sagen würde; aber sie kam nicht dazu, etwas davon zu sagen; seine Leidenschaft überwältigte sie. Sie wollte ihn beruhigen, sich selbst beruhigen; aber es war schon zu spät. Seine Erregung teilte sich ihr mit. Ihre Lippen zitterten so, daß sie lange nicht zu reden vermochte.
»Ja, du hast mich erobert, ich bin dein«, brachte sie endlich hervor und drückte seine Hände gegen ihre Brust.
»So mußte es kommen!« sagte er. »Und solange wir leben, muß es so bleiben. Das weiß ich jetzt.«
»Das ist wahr«, erwiderte sie; sie wurde immer blasser und umfaßte seinen Kopf mit beiden Händen. »Und doch liegt etwas Furchtbares darin, nach allem, was vorhergegangen ist.«
»Es wird alles vorübergehen, es wird alles vorübergehen, und wir werden so glücklich sein! Könnte unsere Liebe noch gesteigert werden, so würde sie gerade dadurch gesteigert werden, daß etwas Furchtbares in ihr liegt«, versetzte er, hob den Kopf in die Höhe und lächelte, so daß seine starken Zähne sichtbar wurden.
Und sie konnte nicht anders, sie mußte mit einem Lächeln antworten, nicht auf seine Worte, sondern auf seine Blicke voll heißer Liebe. Sie ergriff seine Hand und streichelte mit ihr ihre kalt gewordenen Wangen und das kurzgeschorene Haar.
»Ich erkenne dich kaum wieder mit diesem kurzen Haar. Du bist noch hübscher geworden, ein Knabe. Aber wie blaß du bist!«
»Ja, ich bin sehr schwach«, erwiderte sie lächelnd. Und ihre Lippen zitterten wieder.
»Wir reisen nach Italien; da wirst du dich schon erholen«, sagte er.
»Ist denn das möglich, daß wir wie Mann und Frau miteinander leben werden, wir beide allein als eine Familie?« sagte sie und blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen.
»Mich hat nur gewundert, daß es jemals anders sein konnte.«
»Stiwa sagt, daß er (das war ihr Mann) in alles willigt; aber ich kann seine Großmut nicht annehmen«, sagte sie, indem sie nachdenklich an Wronskis Gesicht vorbeiblickte. »Ich will die Scheidung gar nicht; mir ist jetzt alles gleich. Ich weiß nur nicht, was er über Sergei beschließen wird.«
Es war ihm völlig unverständlich, wie sie in diesem Augenblick des Wiedersehens an ihren Sohn und an die Scheidung denken und davon reden konnte. War denn das jetzt nicht ganz gleichgültig?
»Sprich nicht davon, denke nicht daran«, bat er; er drehte ihre Hand in der seinigen hin und her und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; aber sie sah ihn noch immer nicht an.
»Ach, warum bin ich nicht gestorben; das wäre das beste gewesen!« sagte sie; die Tränen strömten ihr still, ohne Schluchzen, über beide Wangen. Aber sie gab sich Mühe zu lächeln, um ihn nicht zu kränken.
Eine Ablehnung der auszeichnenden Ernennung auf den gefährlichen Posten in Taschkent wäre nach Wronskis früheren Anschauungen ein schmähliches Benehmen und ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Jetzt aber trat er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, zurück und nahm, als er bemerkte, daß dieser Schritt höheren Ortes mißbilligt wurde, sofort den Abschied.
Einen Monat darauf war Alexei Alexandrowitsch mit seinem Sohn allein in der Wohnung zurückgeblieben; Anna war mit Wronski ins Ausland gereist. Eine Scheidung der Ehe war nicht erfolgt; Anna hatte sie entschieden abgelehnt.
Fünfter Teil
1
Die Fürstin Schtscherbazkaja fand eigentlich, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, die Hochzeit noch vor den Fasten auszurichten, bis zu denen nur noch fünf Wochen Zeit blieb; bis zu diesem Zeitpunkt konnte kaum die Hälfte der Ausstattung fertiggestellt werden; aber sie mußte Ljewin darin recht geben, daß die Ansetzung auf die Zeit erst nach den Fasten sich leicht als eine allzu späte herausstellen konnte, da eine alte Tante des Fürsten Schtscherbazki schwerkrank war, möglicherweise bald starb und dann wegen der Trauer eine noch weitere Hinausschiebung der Hochzeit nötig werden würde. Die Fürstin willigte daher doch ein, daß die Hochzeit schon vor den Fasten gefeiert werden sollte, und entschloß sich, die Ausstattung in zwei Teile, einen größeren und einen kleineren, zu teilen. Und zwar wollte sie den kleineren Teil der Ausstattung gleich jetzt vollständig fertigstellen, den größeren aber später nachschicken, und sie war recht ärgerlich auf Ljewin, weil er es durchaus nicht fertigbringen konnte, ihr eine ernsthafte Antwort auf die Frage zu geben, ob er mit dieser Einrichtung einverstanden sei oder nicht. Diese Einrichtung war um so zweckmäßiger, als das junge Paar gleich nach der Hochzeit auf das Gut fahren wollte, wo sie die Bestandteile des größeren Teiles der Ausstattung nicht nötig hatten.
Bei Ljewin dauerte immer noch jener Zustand der Verwirrung fort, nach dem er die Vorstellung hatte, daß er und sein Glück den wichtigsten, ja einzigen Zweck der ganzen Welt bildeten und daß er jetzt an nichts anderes zu denken und sich um nichts zu kümmern brauche, sondern alles für ihn von anderen Leuten getan und besorgt werden würde. Nicht einmal irgendwelche Pläne und Ziele für sein künftiges Leben hatte er; die Entscheidung darüber stellte er anderen anheim, in der zuversichtlichen Überzeugung, daß sich auf diese Art alles wunderschön gestalten werde. Sein Bruder Sergei Iwanowitsch, Stepan Arkadjewitsch und die Fürstin gaben ihm in allen Dingen Anweisung, was er zu tun habe, und er war immer mit allem, was sie ihm vorschlugen, völlig einverstanden. Sein Bruder nahm eine Hypothek für ihn auf; die Fürstin riet ihm, nach der Hochzeit aus Moskau wegzufahren. Stepan Arkadjewitsch empfahl ihm, ins Ausland zu reisen. Mit allem war er einverstanden. ›Richtet alles ein, wie ihr wollt, wenn euch das Vergnügen macht. Ich bin glücklich, und mein Glück kann dadurch weder größer noch kleiner werden, wie ihr auch die Sache einrichten mögt‹, dachte er. Als er Kitty von Stepan Arkadjewitschs Rat, ins Ausland zu reisen, Mitteilung machte, war er sehr verwundert, daß sie damit nicht einverstanden war, sondern über ihr beiderseitiges künftiges Leben ihre eigenen, ganz bestimmten Gedanken hegte. Sie wußte, daß Ljewin auf dem Gute eine Tätigkeit hatte, die er gern ausübte. Obwohl sie nun, wie er sah, von dieser Tätigkeit nichts verstand, ja auch nichts davon verstehen wollte, so hinderte sie das doch nicht daran, diese Tätigkeit für etwas sehr Wichtiges zu halten. Und daher sagte sie sich, daß sie ihr ständiges Heim würden auf dem Lande haben müssen, und mochte nicht ins Ausland reisen, wo sie doch nicht lange würden wohnen können, sondern dahin, wo ihr Heim sein würde. Dieser bestimmt ausgesprochene Wille versetzte Ljewin in Verwunderung. Aber da es ihm ganz gleich war, so bat er sofort Stepan Arkadjewitsch, wie wenn das dessen Pflicht gewesen wäre, nach dem Gute zu fahren und dort alles, was er für nötig erachten würde, mit jenem Geschmack, der ihm in so hohem Maße eigen sei, einzurichten.
»Aber höre mal«, sagte Stepan Arkadjewitsch nach seiner Rückkehr vom Gute, wo er alles für die Ankunft des jungen Paares vorbereitet hatte, gelegentlich zu Ljewin, »hast du denn auch ein Beichtzeugnis?«
»Nein, wieso?«
»Ohne das kannst du nicht getraut werden.«
»O weh, o weh, o weh!« rief Ljewin. »Ich glaube, ich bin seit neun Jahren nicht mehr zum Abendmahl gewesen. Daran habe ich ja gar nicht gedacht.«
»Na, du bist gut!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch lachend. »Und dabei nennst du mich einen Nihilisten! Aber das ist unumgänglich. Du mußt dich zum Abendmahl vorbereiten.«
»Aber