"Ich fragte mich, wer von uns sie zuerst erkennen würde, oder ob wir sie vielleicht übersehen", schreibt Berniece später. "Alle Fahrgäste, die ausstiegen, sahen so gewöhnlich aus. Plötzlich war da dieses große schöne Mädchen. Uns allen entfuhr ein überraschtes Ooohhh! Keiner der anderen Fahrgäste sah aus wie sie: groß, so hübsch und frisch."
Nach Bernieces Erinnerung ist das Wiedersehen sehr herzlich, die Halbschwestern zeigen sich voller Freude, einander endlich kennenzulernen. Sie umarmen sich immer wieder und sagen einander, wie glücklich sie sind. Manchmal reden sie nervös durcheinander, manchmal schweigen sie nur.
"Wir wussten kaum, wie uns geschah", erinnert sich Berniece. "Wir waren beinahe wie zwei Leute, die sich ineinander verliebt haben, scheint mir. Wir waren überwältigt davon, uns endlich zu begegnen. Ich war ganz stolz auf sie."
Norma Jeane wird durch Detroit geführt und macht mit Berniece und den anderen einen Abstecher nach Kanada, wo sie in Ontario das Zugvogelreservat von Jack Miner besichtigen. Im späteren Oktober erreicht Norma Jeane in Detroit ein Telegramm von Grace aus Chicago, die von Ana Lower erfahren hat, dass Jim bald zurückkehrt. Sie macht sich auf den Weg zu Grace, die in einem Filmentwicklungslabor arbeitet und von Norma Jeane aus der Ferne finanziell unterstützt wird. Wegen zunehmender Spannungen in ihrer Ehe hat Grace sich 1943 vorübergehend von Doc getrennt und ist nach Chicago gezogen. Ihre unter seinem Einfluss entwickelte Neigung zur Trinkerei hat sie mitgenommen, und sie verschlimmert sich in den nächsten Jahren. Am 28. Oktober sendet Norma Jeane von Chicago aus Postkarten an Berniece und an Constance Staub. Ihrer Halbschwester schreibt sie:
"Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr mich unsere Begegnung gefreut hat. Ich möchte euch für alles danken, denn ich hatte eine wundervolle Zeit."
Catherine teilt sie mit, dass sie drei Briefe von "Jimmie" bekommen hat und sich glücklich fühlt. Ihre nächste Station ist Huntington, wo sie Graces Tochter Bebe besucht und deren Freunde kennenlernt. Nelson Cohen, Bebes Ehemann in spe, erinnert sich, dass sie "zu dieser Zeit nicht wie Marilyn Monroe aussah. Ich traf sie nur kurz, sie war aber sehr freundlich und völlig normal." Für eine Freundin von Bebe, Diane DePree Miller, war Norma Jeane "ein gewöhnlich aussehendes Mädchen mit hellbraunem Haar. Sie war sehr scheu und zurückhaltend".
Nach der kurzen Visite bei Bebe (Morgan in ´Marilyn Monroe´: "The visit was brief, but enjoyable") reist Norma Jeane innerlich gestärkt nach Los Angeles zurück.
Am Tag ihrer Rückkehr in den Dope Room wird der 25jährige Corporal David Conover mit anderen Kameramännern und Fotografen von Captain Ronald Reagan, einem Freund von Denny, in die Radioplane Fabrik geschickt. In der Marilyn-Literatur wird in diesem Zusammenhang meist nur der Zeitraum "Herbst 1944" angegeben.
Da Norma Jeane kurz nach dem 28. Oktober Bebe in Huntington besucht und sich dort nur kurz aufgehalten hat und, wie aus dem unten zitiertem Brief an Grace vom 4. Juni 1945 hervorgeht, das Kamerateam "am Tag, als ich nach meiner Reise zu euch wieder zu arbeiten begann" in der Fabrik auftauchte, lässt sich der Zeitpunkt des Ereignisses mit größerer Präzision bestimmen: Die Entdeckung der zukünftigen Marilyn Monroe hat spätestens in der zweiten Woche des November 1944 stattgefunden.
Reagan, der spätere US-Präsident und ein in die 1st Motion Picture Unit der Hal Roach Studios abkommandierter Schauspieler mit drei Dutzend Hollywood-Filmen auf dem Buckel, will den Frontsoldaten demonstrieren, wie tatkräftig sie von patriotischen Mädchen in der Heimat unterstützt werden. Diese Zielsetzung unterscheidet die Aktion von der ´Rosie-the-Riveter´Kampagne, mit der die Armee seit Jahren mit Fotos und Plakaten von Rüstungsarbeiterinnen amerikanische Frauen für die Rüstungsfabriken anwirbt. Erscheinen sollen die Fotos im Armeemagazin Yank. Als professioneller Fotograf mit eigenem Fotostudio ist Conover dafür der richtige Mann.
Liest man die verschiedenen Zeugenberichte, die über dieses Ereignis vorliegen (vier von Norma Jeane/Marilyn und einer von Conover), dann springen einige Unterschiede ins Auge. Um Conovers Rolle bei der Entdeckung Marilyn Monroes zu bestimmen, sollte man diese Berichte vergleichen und so etwas wie einen wahren Kern herausschälen, um eine Vorstellung von den tatsächlichen Umständen zu bekommen. Das ist in der Marilyn-Literatur bisher nicht unternommen worden.
Über ihr Zusammentreffen mit Conover berichtet Norma Jeane in einem Brief an Grace vom 4. Juni 1945:
"Am Tag, als ich nach meiner Reise zu euch wieder zu arbeiten begann, waren dort einige Armeefotografen und machten Filmaufnahmen für eine Armeeübung (´army training´). Die Vorarbeiterin und der Vorarbeiter ließen mich sofort holen, damit die Armeeleute (´army´) Bilder von mir machen. Sie alle fragten mich, wo zum T ich gesteckt habe. Ich sagte, dass ich im
Osten gewesen bin, um meine Verwandtschaft zu besuchen und dass ich dafür beurlaubt worden war. Sie machten viele Filmaufnahmen (´moving pictures´) von mir, und ein paar baten mich um Dates, usw. (Natürlich habe ich abgelehnt!). Es waren alles nette Offiziere und Soldaten. Nachdem sie einige Aufnahmen gemacht hatten, sagte mir ein Armeekorporal mit dem Namen David Conover, dass er daran interessiert sei, Farbfotos von mir zu machen. Er hatte ein Studio auf ´dem Strip´ am Sunset Boulevard. Er sagte, er würde mit dem Leiter der Fabrik eine Absprache treffen, wenn ich einverstanden wäre, also sagte ich okay. Er sagte mir, was ich anziehen und welche Lippenstiftfarbe ich nehmen solle, usw., also habe ich in den folgenden Wochen für ihn einige Male Model gestanden, wann immer er zur Fabrik kommen konnte. Er musste jedes Mal von Culver City kommen. Er ist jetzt bei der First Motion Picture Unit. Später rief er mich eines Morgens in der Fabrik an und sagte mir, dass alle Bilder perfekt geworden sind. Er sagte auch, dass ich unbedingt beruflich als Model arbeiten soll und dass ich sehr gut zu fotografieren bin und dass er noch viel mehr davon machen will. Er sagte auch, dass er viele Kontakte hätte, bei denen ich es auch versuchen kann. Ich sagte ihm, ich würde lieber nicht arbeiten, wenn Jimmie hier ist, da sagte er, er würde warten, also hoffe ich, jederzeit wieder von ihm zu hören. Vor kurzem hat er angerufen und gesagt, dass er noch mehr Abzüge für mich aufbewahrt. Er ist total nett und ist verheiratet und ganz professionell, was mir gefällt. Jimmie scheint die Idee, dass ich als Model arbeite, zu gefallen, worüber ich froh bin."
Laut Interview mit Pete Martin von 1956 haben sich die Dinge so abgespielt:
"Ich war für ein paar Tage krankgeschrieben, und als ich zurückkehrte, machten die Armeefotografen von den Hal Roach Studios, wo ihre Zentrale ist, gerade Aufnahmen, während ich diese Drohnen lackierte. Die Armeetypen sahen mich und und fragten: ´Wo bist du gewesen?`
´Ich war krankgeschrieben´, sagte ich. ´Komm nach draußen´, sagten sie mir.
´Wir machen Aufnahmen von dir.´
´Das geht nicht´, sagte ich. ´Die anderen Frauen hier im Dope Room machen mir Ärger, wenn ich jetzt aufhöre und mit euch gehe.´ Die Armeefotografen gaben aber nicht auf. Sie besorgten eine Sondergenehmigung für mich, nach draußen zu gehen, von Mr. Whosis, dem Präsidenten der Fabrik. Eine Zeitlang machten sie Bilder von mir, wie ich an den Drohnen arbeite; dann fragten sie mich: ´Hast du keinen Pulli?`
´Ja´, sagte ich ihnen, ´zufällig habe ich einen mitgebracht. Er ist in meinem Spind.´ Danach arbeitete ich im Pulli mit den Drohnen. Der Name eines dieser Armeefotografen war David Conover. Er lebt nahe an der Kanadischen Grenze. Er sagte mir immer wieder: ´Du solltest Model werden´, ich dachte aber, er will nur flirten. Ein paar Wochen später brachte er die Farbfotos, die er von mir gemacht hatte, und sagte, dass jemand von der Eastman Kodak Company ihn gefragt hat: ´Wer im Himmels Namen ist dein Model?´"
1960 gibt Marilyn im Interview mit Belmont diese Version:
"Und eines Tages wollte die Luftwaffe in unserer Fabrik Aufnahmen machen. Ich war gerade aus meinem Urlaub zurückgekehrt, als ich ins Büro gerufen wurde. ´Wo bist du gewesen?´ Ich war fassungslos und sagte: ´Ich hatte doch eine Urlaubsgenehmigung!", was auch stimmte.