Die Revolution der Bäume. H. C. Licht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H. C. Licht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753194868
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Kribbeln in seiner Herzgegend ist ein untrüglicher Hinweis. Auch er hat einen sechsten Sinn und ein enormes Feingefühl für die Dinge, die sich zwischen dem Diesseits und dem Jenseits abspielen. Witternd hebt er seine spitze Schnauze.

       „Da, sie wacht auf!“

       Tatsächlich, gleich darauf geht ein verhaltenes Zittern durch die knorrige Eiche. Wie es bei im höchsten Maß vergeistigten Wesen im allgemeinen der Brauch ist, lässt sie sich sehr viel Zeit bei der Rückkehr in die irdische Sphäre. Mancher Guru könnte sich bei ihr in Bezug auf Contenance eine dicke Scheibe abschneiden.

       „Wer sich beim Aufwachen angemessen viel Zeit lässt, kann sich nachher besser an seine Träume erinnern.“, predigt sie immer. Und weil es ihr ausgesprochen wichtig ist, ihr Umfeld stets an ihren allerneuesten Erkenntnissen teilhaben zu lassen, gibt sie spontan eine Lektion zur Verbesserung des sogenannten langen Atems.

      Sehr maßvoll raschelnd und betont gemächlich richtet sich die altehrwürdige Eiche zu voller Größe auf und blinzelt schläfrig, aber auch etwas verschmitzt, in die erwartungsvollen Gesichter der Versammelten. Nachdem sie auf eine unendlich zeitintensive, speziell alten Bäumen eigene Wesensart, tief Atem geschöpft hat, kommt die kaum noch zu bändigende Zuhörerschaft endlich in den Genuss ihrer basslastigen, aber angenehm melodisch klingenden Stimme.

       „Mir wurde eine Vision zuteil.“

      Manchen Tieren mangelt es von Natur aus an Beherrschung. Das rund um die Uhr besorgte Reh atmet hörbar erleichtert aus, der viel zu empathische Mäuserich seufzt mit schrillem Piepsen und der nervlich angespannten Igelin entfährt ein langgezogener und laut knatternder Furz. Wie die Anwesenden wissen, ist die ihr furchtbar peinliche geruchsintensive Lärmbelästigung nicht so sehr Ausdruck einer schlechten Kinderstube, sondern ihrem nervösen Darmleiden geschuldet. Trotzdem trägt ihr kleines Malheur sehr zur allgemeinen Belustigung bei, verhaltenes Giggeln und Kichern erfüllt die warme Sommerluft.

      Es ist selbstverständlich der greisenhafte Waschbär, der total übertrieben reagiert und lauthals losprustet. Man sagt ja, dass die Alten wie die Kinder sind, auf ihn trifft diese These jedenfalls hundertprozentig zu. Und so bleibt ihm sein schamloses Gelächter auch dann nicht im Hals stecken, als er dafür einen strengen Blick des Fuchses erntet, der mal wieder glaubt, sich als Oberaufseher und Sittenwächter aufspielen zu müssen.

      Insgeheim sind der Igelin alle dankbar für die unverhoffte Gelegenheit, endlich mal ein bisschen Luft ablassen und Spannung abbauen zu können. Nur der muffelige, in die Jahre gekommene Adler, hat wie immer etwas zu meckern. Was aber nicht allzu viel zu bedeuten hat, denn als unverbesserlicher Einzelgänger hasst er Vollversammlungen wie die Pest. Unwirsch schlägt er mit den Flügeln und hüllt die Umstehenden in eine graue Staubwolke.

       „Pscht! Nun haltet doch endlich mal die Klappe! Wir sind ja schließlich nicht im Kindergarten.“

      Als auf der Lichtung wieder Ruhe eingekehrt ist, räuspert sich die Eiche umständlich. Gleich platzen sie vor Neugier, denkt sie. Und ihr Grinsen ist ebenso breit wie unsichtbar. Sie mag es, im Rampenlicht zu stehen. Auf der Bühne wird ihr immer ganz warm ums Herz. Durch all die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird, fühlt sie sich wie jemand ganz Besonderes.

      In ihrer gesellschaftlichen Position als Geschichtenerzählerin kann ein gewisses Maß an Showtalent nicht schaden. Ihrer Meinung nach, sind es nicht allein die Worte und ihr Inhalt, die die Qualität eines Vortrags ausmachen, erst die richtige Art und Weise der Darbietung generiert das gewisse Etwas. Durch sie gelangt das Salz in die Suppe.

      Um den Anschein zu erwecken, dass sie nun endlich loslegen will, atmet sie ganz tief ein. Erneut lässt sie die Borke beben und die Blätter rascheln. Mit ihrem dritten Auge nimmt sie selbstzufrieden wahr, dass die Luft über ihrer Zuhörerschaft anfängt zu flirren. Als deren gespannte Aufmerksamkeit kurz darauf anfängt, sich in Form winziger Blitze über den Häuptern der ungeduldig Wartenden zu entladen, hüllt sie sich mit einem majestätisch anmutenden Neigen ihrer Baumkrone abermals in tiefes Schweigen.

       Welch ein hochgradig amüsantes Gesellschaftsspiel, insbesondere wenn man am längeren Hebel sitzt, schmunzelt sie in sich hinein.

      Da sie als Eiche auf die Welt kam, ist sie sich der Tatsache bewusst, dass sie in der Gemeinschaft der lebendigen Wesen ein gewisse Vorbildfunktion inne hat. Als Baumgeborene ist sie automatisch zur Lehrerin in Sachen Entschleunigung auserkoren und repräsentiert den Weg der kleinen Schritte. Letztendlich ist das alles eine Frage eines ausgereiften Blickwinkels. Denn so ein über fünfhundert Jahre gewachsenes Wissen verleiht eine gehörige Portion Gelassenheit und Selbstvertrauen und das Bewusstsein, dass es eine große Gabe ist, zurückhaltend zuhören zu können.

      Nachdem sie in der Vergangenheit etliche Male über ihre eigene Ungeduld gestolpert ist, weiß sie, dass es vollkommen sinnlos ist, das Licht der Wahrheit zu erwarten. Einerlei, für wie weise man sich auch halten mag, erleuchtet zu werden ist keine himmlische Zuwendung, die durch Fleiß und Disziplin verdient wird und auch keine Frage von kontemplativer Haltung oder asketischer Konzentration. Die Quelle, die das heilige, weiße Licht aussendet, folgt weder einem vorhersehbaren Plan, noch hält sie sich an nachvollziehbare Regeln. Das Maß göttlicher Aufmerksamkeit ist unkalkulierbar, zumindest aus irdischer Sicht.

      Alles, was man dazu beitragen kann, ist, seine Bereitschaft zu signalisieren und auf ein etwaiges Echo zu lauschen. Man kann dem heiligen Universum gegenüber eine Bitte äußern. Aber dann sollte der Wunsch möglichst umgehend losgelassen werden, damit man als Absender mit seinem Anliegen nicht so aufdringlich erscheint. Und ab diesem Augenblick bleibt einem nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten. Warten und nochmal warten, bis sich die Gelegenheit ergibt, einen klitzekleinen Schritt weiter zu gehen.

      Mit dem Stadium erwartungsfrohen Hoffens kennt die Eiche sich aus. Nach der lehrreichen Schule des Scheiterns, hat sie, trotz ihrer Jugend, den Status des Anfängers erfolgreich hinter sich gelassen und nimmt nun ausnahmslos alle überirdischen Zuwendungen zutiefst dankbar entgegen. Und sollten sie ihr auf den ersten Blick auch noch so banal und läppisch vorkommen, jede einzelne ist ein kostbares Geschenk des großen, heiligen Geistes, das sie zu schätzen weiß.

      „Vorfreude ist doch die schönste Freude, nicht wahr?“, würde sie jetzt am liebsten laut ausrufen. Aber das könnten die anderen eventuell als Provokation missverstehen. Und dann wäre die Luft raus und die herrlich kribbelige Spannung unwiderruflich futsch. Mit der Zeit werden selbst die Tiere begreifen, dass jede bewusst erlebte Geduldsprobe gleichzeitig auch eine gute Lektion in Demut ist. Sollen sie also ruhig noch ein Weilchen in ihrem Saft schmoren.

      Abgesehen davon lassen sich die Erkenntnisse, die sie auf ihrer Reise gesammelt hat, nur schwer in Worte fassen, denn der kurze Blick hinter die Kulissen, stellt sie vor ein komplexes Rätsel.

      Wie soll sie es deuten, dieses geheimnisvolle Antlitz einer Vision, die gleichzeitig auch eine Prophezeiung ist?

      Größere Zusammenhänge lösten sich von dem dunklen Hintergrund universellen Wissens und nahmen für einen flüchtigen Moment konkrete Gestalt an. Für den Bruchteil einer Sekunde offenbarte sich der Eiche eine neue Perspektive auf die Erde und das Mysterium irdischen Lebens. Als ob ein kosmisches Blitzlicht dem uferlosen Schatten des großen Unbekannten ein Beweisfoto entrissen hätte, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich vereinte und sich sofort unauslöschlich in ihr vielschichtiges Gedächtnis eingebrannt hat.

      Prüfend lässt sie ihren Blick ein letztes Mal über das vor Neugier schier vibrierende Rund der Versammlung schweifen. Die optimale Betriebstemperatur ist erreicht, die Crowd ist soweit. Die Eiche schließt ihre Augen und bündelt ihr Bewusstsein in einer winzigen, quecksilbrig glänzenden Kugel.

      Und während sie mit ihr in das Haus der allumfassenden Erinnerung fliegt, spinnt sie den magischen Faden, der die Welten miteinander verbindet. An beiden Enden und Orten sicher verankert, befindet sich ihr Bewusstsein nun gleichzeitig hüben wie drüben, fifty fifty. Sie ist selbst immer ganz baff, wie scheinbar mühelos sie das Kunststück dieses transzendentalen Spagats zuwege bringt.

      Und schließlich beginnt sie mit ruhiger Stimme zu sprechen.

      „Die Menschen wirkten müde, zutiefst erschöpft. Manchen war