Die Revolution der Bäume. H. C. Licht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H. C. Licht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753194868
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erfüllt. Die einhellige Meinung des Waldes, in dessen Mitte sie steht, ist, dass sie jede Menge Potential hat und unbestreitbar eine gewisse Begabung für das Transzendentale besitzt, die sich ausbauen lässt. Ihre bisher relativ überschaubare Fangemeinde geht sogar so weit, zu behaupten, dass man ihr Talent, wenn es bei ihrem Aufgabenbereich um irdische Angelegenheiten ginge, durchaus als detektivischen Spürsinn bezeichnen könnte.

      Gemessen an dem zutiefst bodenständigen Charakter der Waldwesen, kann man bei dieser Aussage von einem echten Kompliment sprechen, und das trotz der mangelnden Routine, die sie leider nach wie vor bei dem filigranen Prozess der Übersetzungsarbeit an den Tag legt. Während ihrer Reiseberichte sucht sie gelegentlich händeringend und extrem zeitintensiv nach den passenden Formulierungen. Auch wenn sie diese Ausfälle als angeblich dramaturgisch notwendige Redepausen tituliert, strapaziert sie mit ihnen die Nerven ihrer Zuhörer über alle Maßen.

      Doch auch dafür hat die Community vollstes Verständnis, sie übt sich in Geduld. Gewisse Anfangsschwierigkeiten sind bei diesem Job ja quasi vorprogrammiert, derart komplex, wie transzendentale Zusammenhänge nun einmal gestrickt sind.

      Im Großen und Ganzen ist sich die Mehrheit der Waldbewohner darin einig, dass sie, trotz ihrer temporären Anfälle jugendlichen Leichtsinns, in den letzten Jahren zu einer recht erfahrenen Weltenwandlerin heran gereift ist. Zur Entschuldigung ihrer kleinen Schwächen sollte man erwähnen, dass die Eiche ihr Erbe verfrüht antreten musste. Denn normalerweise bekommen ausschließlich Erwachsene die immense Verantwortung übertragen, die das Amt der Träumerin mit sich bringt.

      Gut einhundert Jahre ist es her, dass sie ein ausgewachsener Herbststurm quasi über Nacht die spirituelle Karriereleiter aufwärts katapultierte, indem er die damalige Baumälteste, eine tausendjährige Platane, entwurzelte und so der Gemeinschaft entriss. Da die Vorstellung, ohne spirituelle Führerin zu leben, den Waldwesen ganz unerträglich erschien, wurde die gerade mal vierhundert Jahre junge Eiche, als eigentlich viel zu unreifer, aber zweitältester Baum zur Nachfolgerin bestimmt.

      Sie fühlte sich natürlich geehrt und nahm das Amt auch begeistert an, kann ihrer Vorgängerin aber noch nicht das Wasser reichen. Eine Meinung, die selbstverständlich ausschließlich hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht wird, da jedes Waldwesen weiß, wie empfindlich speziell Eichen auf Kritik reagieren. Und letztendlich muss man ihr zugestehen, dass sie, obwohl sie immer noch leicht überheblich, gelegentlich sogar ein bisschen manipulativ wirkt, ihre Aufgabe im Grunde genommen schon recht gut erfüllt.

      Inzwischen ist ihr Stamm, bis in die innersten Jahresringe hinein, erfüllt von einem breit gefächerten Wissen über etliche Epochen irdischen Lebens. Selbst über die sehr komplizierte Gattung Mensch hat sie einiges an wertvollem Knowhow sammeln können. Ein Erfahrungsschatz, der unter den Bäumen von Generation zu Generation weitergegeben wird.

      „Ich kann euer heimliches Getuschel hören, sogar in euren Gedanken lesen. Eure Köpfe sind für mich wie offene Bücher.“, würde sie manchmal gerne in den Wald hinein rufen. Aber auch, wenn sie damit leben könnte, dass der Wald sie daraufhin für noch abgehobener halten und ein dementsprechend geringschätziger Kommentar aus ihm retour erschallen würde, behält sie diese Art von Wissen für sich. In ihrer Funktion als Lehrerin ist sie sich im Klaren darüber das weniger mehr ist. Ein nahezu allwissendes Vorbild wie sie, muss seinen Mitteilungsdrang unbedingt in den Griff kriegen und darf nicht immer alles heraus lassen, das würde die anderen nur sinnlos überfordern.

      Schließlich wird sie als Familienoberhaupt ständig mit komplexen Fragestellungen konfrontiert. Es ist ihr schon in Harz und Rinde übergegangen, sich mit existenziellen Rätseln herumzuschlagen und den Großteil ihrer Erkenntnisse für sich zu behalten. Ihrer persönlichen Einschätzung nach wird sie, gerade aufgrund ihrer vornehmen Zurückhaltung, als kompetente Vermittlerin zwischen den Bewusstseinsebenen weithin geschätzt.

      Ebenfalls nicht hinausposaunen wird sie, dass, ihrer bescheidenen Ansicht nach, gerade die Tiere in Sachen Transzendenz ein bisschen Nachhilfe dringend nötig hätten. Diese laufen sonst schnell Gefahr, dass ihnen ihr triebgesteuertes Wesen den differenzierten Blick auf den Lauf der Welt verbaut. Aber trotz der Engelsgeduld und der versierten Unterstützung der Eiche, bezieht deren animalischer Horizont leider nur das vordergründig Existenzielle mit ein. Ihre reduzierte Wahrnehmung ist im Normalfall auf den Themenkomplex fressen und gefressen werden ausgerichtet und ihre Auffassungsgabe dementsprechend eindimensional.

      Die filigranen Sinne der Pflanzenwelt hingegen, besonders die der alten Bäume, interagieren vielschichtiger, haben diese ganz spezielle und fein justierte, emotionale Intelligenz, die in der Welt ihresgleichen sucht.

      Ohne überheblich wirken oder einer der beiden Spezies zu nahe treten zu wollen, muss die Eiche konstatieren, dass Tiere und Homo sapiens einiges gemeinsam haben. Sie sind gesteuert von ihrer ewigen Gier, und drehen sich, bis auf wenige lobenswerte Ausnahmen, ausschließlich um sich selbst und ihre primären Bedürfnisse. Deshalb mangelt es ihnen logischerweise am notwendigen Weitblick und am tieferen Verständnis für das große Ganze.

       Wobei die menschliche Gattung definitiv das größere Übel darstellt. Ihr ignorantes Wunschdenken, die Pflanzenwesen hätten keinerlei Bewusstsein, ermöglicht es ihnen, sie ohne schlechtes Gewissen auszubeuten und als leblosen Rohstoff zu behandeln. Auf der fadenscheinigen Basis vorgeblich wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse, reden sie sich ihr grausames Verhalten schön. Gefangen in ihrem Gewohnheitstran schablonenhafter Denkweisen, verfügen sie wie selbstverständlich über die Pflanzen, als ob diese kein Grundrecht auf Würde und Respekt hätten.

      Die Eiche wiegt sinnend ihre Krone, worauf die Blätter ihr leise raschelnd zustimmen.

      Wenn die wüssten, wie sehr sie auf dem Holzweg sind und was sie sich mit ihrem Fehlverhalten selbst an Schaden zufügen. Rein karmisch gesehen ist so eine Denkweise die reinste Katastrophe. Denn trotz der weit verbreiteten Meinung, dass Pflanzen im Gegensatz zu Tieren und Menschen nichts empfinden können, steht das Gefühlsleben der Bäume dem anderer Lebewesen um nichts nach. Sie spüren sehr wohl den Schmerz, wenn die Axt sie trifft, ihre Rindenhaut durchtrennt und tief in ihr Innerstes eindringt.

       Sie haben nur keinen Mund, um zu schreien, und auch sonst keine Möglichkeit, ihrer Qual Ausdruck zu verleihen, als durch den Ausfluss von Harz und gespeichertem Wasser. Während sie am lebendigen Leib zersägt, zerhackt, zerstückelt und zermahlen werden, leiden sie für menschliche Ohren unhörbar vor sich hin und speisen ihre entsetzlichen Sinneswahrnehmungen in das wohl größte Netzwerk dieser Hemisphäre ein, in das der Bäume.

      Ob schmerzlich oder angenehm, sie teilen permanent jeden ihrer Erfahrungswerte mit Abermillionen anderen Vertretern ihrer Gattung. Ständig kreist eine wahre Informationsflut durch ihre filigranen Kommunikationssysteme. Einzelne Nachrichten werden verdoppelt und verstärkt, andere durch abweichende Sichtweisen anderer Bäume differenzierter wahrgenommen oder gänzlich verworfen.

      So durchlaufen die Mitteilungen permanent die Filter des vegetativen Nervensystems der Erde, bis sie am Ende bei Altvorderen wie der Eiche landen. Ihr obliegt die ehrenvolle Aufgabe, die einzelnen Sinneseindrücke zu sammeln und sinnvoll zusammenzufassen. Sie versucht, Strukturen und Tendenzen zu erkennen, die versteckte Bedeutung aus dem uferlosen Chaos heraus zu lesen.

      Leid und Freude liegen manchmal nah beieinander. Das eine geht nicht ohne das andere. Auch wenn die Eiche auf so manche betrübliche Information nur allzu gerne verzichten würde, hat sie keine Wahl. Entweder man hat die Tür zur anderen Dimension oder nicht. Wenn sie sich dem Schmerz ihrer Artgenossen verschließen würde, dann würde sie auch deren frohe Botschaften nicht empfangen. Entweder ganz oder gar nicht, es gibt leider keine halboffene Tür, keinen Filter, der ausschließlich das Glück der Erde passieren lässt.

      Obwohl sie sich im Grunde ihres Herzens nach positiveren Inhalten sehnt, sind es überwiegend Gedanken von existentialistischer Natur, die die Eiche an diesem schönen Sommertag beschäftigen. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, über den Lauf der Welt, besonders das Schicksal ihrer Artgenossen, nachzudenken. Auch wenn sie sich nicht immer aussuchen kann, was ihr gerade durch den Sinn schießt, die Philosophie ist und bleibt ihr Steckenpferd.

      Als hätte sich die Zusammensetzung der Luft minimal zugunsten des Sauerstoffgehalts verschoben,