Wie ich vermutet hatte, konnte Pulver-Max, wie die meisten Seeleute, nicht schwimmen. Um nicht unterzugehen, schlug er wild im Wasser um sich, prustete, und schnappte nach Luft. Die Mannschaft antwortete mit schallendem Gelächter. Er wäre vielleicht ertrunken, wenn sie ihm nicht unter Gejohle Taue hinuntergeworfen und Enterhacken entgegengestreckt hätten, bis auch er das Fallreep erreichte. Der Capitán soll Tränen gelacht haben, -- was selten vorkam -- als er von der Geschichte erfuhr. Pulver-Max, dagegen, hat sie mir nie verziehen. Schon wenige Tage später wollte er Rache nehmen, als ich ihm unter Deck unerwartet in die Arme lief. Er schleppte mich gewaltsam nach oben. Die Mannschaft, die ihn eben noch verspottet hatte, feuerte ihn jetzt mit demselben Vergnügen an, als er sich anschickte mich ordentlich zu verprügeln. Mit einem Arm hielt er mich umschlungen, daß mir fast der Atem ausging, mit dem anderen holte er eben aus, als ich ihm wild in den Oberarm biss. Fluchend schleuderte er mich, Kopf voraus, gegen den Hauptmast, wo ich benommen liegen blieb. Doch als er sein Werk vollenden wollte, fuhr ihm ein sengender Peitschenhieb von hinten über den nackten Rücken. Er zuckte zusammen und fuhr herum, bereit zurückzuschlagen. Doch der Capitán stand ihm gegenüber. Er hatte sich einen Weg durch die eng zusammengedrängte Menge gebahnt und brüllte nun:
„Du hast deine Chance gehabt nach alter Tradition, Pulver-Max! Wenn du dich noch weiter an Schwächeren vergreifen musst, so tu es an Kauffahrern, aber nicht an meinem Schiffsjungen!“
Pulver-Max stand regungslos mit geballten Fäusten. Vor dem Capitán hatte er Angst und Respekt.
So bin ich mit einem brummenden Kopf davongekommen. In der Folge hat er immer wieder mal versucht, mich zu unterdrücken, aber bis dahin hatte ich gelernt mich halbwegs zu schützen. Bei der Mannschaft hingegen war mein Ruf sichergestellt. Und der Name „der rote Kolibri“ ist mir erhalten geblieben.
Ich wurde noch einer ganzen Reihe von Proben unterworfen und bin nach sechs Monaten in die Gemeinschaft der Seeräuber aufgenommen worden.
Die erste Prise
Noch am Tag meiner Einschiffung stachen wir in See. Fasziniert sah ich zu, wie die Männer in schwindelnder Höhe über den Rahen17 hingen und die Reffschnüre18 lösten, bis die Segel knatternd herunterkamen. Eine Weile schlugen sie noch, bis sie vollgebrasst19 vom Wind gefüllt waren. Der gelichtete Anker war schon gekattet20. Und bald spürte ich unter meinen Füssen, ja mit meinem ganzen Körper, wie die Fortuna mit weichen Bewegungen die Dünung21 durchfurchte.
Ich fühlte mich frei und glücklich - mein Seeräuberleben hatte wirklich begonnen. Bald würde auch ich hoch oben auf den Rahen liegen, würde bis in die untersten Decks des Schiffes hinuntersteigen. Die Fortuna würde mir all ihre Geheimnisse enthüllen.
Drei Jahre habe ich dem Capitán gedient. Es war eine harte Lehrzeit, aber ich habe sie nicht bereut. Zur Mannschaft, einem bunten, wild zusammengewürfelten Haufen, hatte ich ein zurückhaltendes Verhältnis. Ich vertraute mich niemandem völlig an. Und sie fühlten sehr bald, dass ich immer mehr zum Kreis des Capitáns gehörte. Das machte die einen liebdienerisch und die anderen misstrauisch.
Dagegen habe ich mich mit Nikolaus sofort angefreundet. Er hatte mich vor der Schiffstaufe gewarnt, er hatte mich überall eingeführt. Wir wurden sehr schnell Blutsbrüder. Ich hätte mit ihm das Herz im Leib geteilt, und wir wären, der eine für den anderen, durchs Feuer gegangen. Ich war dankbar in ihm jemanden gefunden zu haben, der gewillt schien, mir mit viel guter Laune über diese erste schwere und einsame Zeit hinwegzuhelfen, die nun meine Kindheit abgelöst hatte. Nikolaus stammte aus Deutschland, hatte in der stolzen freien Reichsstadt Frankfurt am Main das Zimmermannshandwerk erlernt. Doch die kleinen, schmalen Gassen zwischen den hohen prunkvollen Fachwerkhäusern um den Kaiserdom und um den Römer herum und die Unbeugsamkeit der Zunftregeln waren ihm bald zu eng geworden. Vielleicht war er auch noch vor etwas anderem auf der Flucht. Jedenfalls suchte er die weite, unbegrenzte Welt. Auf einem Frachtkahn erreichte er main-und-rheinabwärts Rotterdam. Zwei Jahre arbeitete er für einen Schiffsbauer, bis er dem Capitán über den Weg lief und ihm folgte. Nikolaus hatte nichts von jener schweren Ernsthaftigkeit, die man üblicherweise den Deutschen zuschreibt. Im Gegenteil, er schien fröhlich bis zur Leichtfertigkeit. Wo immer er auch war, trug er stets seine kleine Holzflöte bei sich, auf der er bisweilen spielte und dabei mit leichten Schritten herumtanzte. Man wusste nie, was für närrische Grillen ihm im Kopf herumgingen.
„Das wird dich noch mal ins Verderben stürzen!", hatte ich ihm einmal gesagt, aber er hatte nur gelacht und geantwortet: „Je toller der Schnaps gebrannt, desto besser schmeckte er mir“. Erst langsam lernte ich sein zweites Gesicht kennen. Wenn er sich unbeobachtet fühlte und die Possenreißer-Maske von ihm abgefallen war, blickte eine unermeßliche Trostlosigkeit aus seinen Augen. Was für eine seelische Erschütterung er mit sich herum trug und wer sie ihm zugefügt, habe ich nie erfahren. Auch El Indio, der so manche Beichte wie in einem Grab in sich aufbewahrte, wusste es nicht. Nikolaus war ein paar Jahre älter als ich, aber ich hatte sehr bald das Gefühl ihn beschützen zu müssen, vor allem gegen sich selbst. In der Art, wie er das Schicksal herausforderte und dennoch überlebte, muss er ständig eine ganze Schar von Schutzengeln um sich gehabt haben. So war Nikolaus Fortunas närrischer und verzweifelter Eulenspiegel.
Ein weiterer Reisegefährte meiner jungen Jahre, wenn auch weniger vertraut, war der Steuermann, den sie El Indio nannten. Eine schwere, wuchtige Gestalt, ein langsamer, sicherer Gang, unter glattem schwarzen Haupthaar ein breites flaches Gesicht, aus dem eine Hakenase und eine lange Meerschaumpfeife herausragten. Niemand wusste sein Alter, er hätte so alt wie Methusalem sein können. Sein Gesicht war von unzähligen Runzeln durchzogen. Doch war er noch stark wie ein Bär. Vor allem aber war er voll all der Seefahrtserfahrung und all der Seemannsgeschichten, die ein langes Leben auf den verschiedensten Schiffen und auf allen Weltmeeren mit sich bringt. Rau, aber menschlich, war er immer bereit den anderen der Gemeinschaft zu helfen, jedoch ließ er niemanden zu nahe an sich herankommen. Durch leichte Ironie hielt er Abstand. El Indio war wie ein ruhender Pol, ein unerschütterlicher Felsen in der Brandung inmitten dieser wild wogenden Seeräubergemeinschaft. Keiner wagte sich seiner Autorität zu widersetzen. Selbst der Kapitän behandelte ihn mit Achtung -- und nicht nur seiner seemännischen Kenntnisse wegen. Keiner wusste um seine Geschichte, noch was ihn zu den Seeräubern getrieben hatte. Man sagte, dass er aus den Amerikas stamme und ein Inka sei. Was das genau bedeutete, wusste niemand. Ich hatte vom ersten Moment an, da ich ihm als schmächtiger Halbwüchsiger auf Deck der Fortuna über den Weg lief und er mich mit einem freundlich-ironischen „Na, du Schrecken der Meere!“ begrüßte, eine verhaltene Zuneigung zu ihm gefasst, die er in gleicher Weise erwiderte. Darüber hinaus kam er meiner unbegrenzten Wissbegier mit Geduld und Nachsicht entgegen, sodass ich durch ihn in den nächsten Jahren -- meist eingebettet in die abenteuerlichsten Seemannsgeschichten -- mehr gelernt habe über Navigation, Wetterkunde, und Schiffe, und was man ihnen in Kampf und im Sturm zutrauen kann, als mancher, der sein Leben lang auf See gewesen ist.
Mir wurde erst im Laufe der Zeit klar, dass El Indio nicht nur Steuermann, sondern auch Anführer der Mannschaft sei. So war denn auch das, was der Capitán mir über seine eigene Befehlsgewalt gesagt hatte,