Werthers Leiden. Emil Horowitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emil Horowitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748563303
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bot mir die Hand zur Promenade. "Warum sollte ich es verschweigen. Albert ist ein guter Mensch, mit dem ich so gut wie verlobt bin." Das war nun keine Neuigkeit für mich, hatten es mir die Mädchen auf dem Hinweg doch bereits mitgeteilt. Und doch fühlte es sich wie eine absolute Novität an, denn bisher hatte ich diese Tatsache noch nicht im Verhältnis auf sie betrachtet, auf sie, die mir in kurzer Zeit so tief ins Herz gedrungen war. Genug davon. Ich kam im Tanz durcheinander, geriet zwischen das falsche Paar, so dass alles drunter und drüber ging. Nur Lottes Geistesgegenwart und einiges Ziehen und Zerren brachte alles wieder in Ordnung.

      Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon die ganze Zeit über am Horizont beobachtet hatten und für Wetterleuchten hielten, stark zunahmen und der Donner die Musik übertönte. Drei Frauen liefen aus der Tanzreihe, gefolgt von ihren Herren. Schließlich verstummte auch die Musik. Es ist nur natürlich, dass uns ein Unglück oder sonst etwas Schreckliches dann besonders überrascht, wenn es während eines Vergnügens eintritt. In diesem Fall nehmen wir es besonders stark wahr, und das aus zwei Gründen. Zum einen ist es der Gegensatz, der sich so eindringlich bemerkbar macht. Zum anderen – und das ganz besonders – sind unsere Emotionen sensibilisiert und reagieren besonders intensiv.

      Dies war wohl auch der Grund für die wunderlichen Grimassen, die ich bei einigen der Damen beobachtete. Die Klügste unter ihnen setzte sich in eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster, und hielt sich die Ohren zu. Eine andere kniete vor ihr nieder und verbarg den Kopf im Schoß der Klugen. Eine dritte zwängte sich dazwischen und um klammerte sich weinend an ihre Schwestern. Einige wollten nach Hause, doch andere, die noch weniger wussten, was sie tun sollten, hatten nicht die Geistesgegenwart, sich der Frechheiten unserer jungen Strolche zu erwehren. Diese nämlich schienen sehr beschäftigt damit zu sein, die ängstlichen, an den Himmel gerichteten Gebete von den Lippen der schönen Bedrängten abzufangen. Einige der Herren waren hinuntergegangen, um in Ruhe ein Pfeifchen zu rauchen. Die übrige Gesellschaft nahm dankbar das Angebot der Wirtin an, die ihren Gästen ein Zimmer mit Vorhängen und Fensterläden zur Verfügung stellte. Darin angekommen, begann Lotte gleich damit, Stühle in einem Kreis aufzustellen. Nachdem die Gesellschaft darauf Platz genommen hatte, schlug sie ihnen ein Spiel vor.

      Ich bemerkte manchen, der sich in der Hoffnung auf ein Pfänderspiel wohlig räkelte. "Wir spielen zählen!", sagte sie. "Also, passt auf. Ich gehe von rechts nach links im Kreis herum. Auf die gleiche Weise zählt auch ihr ringsherum. Jeder sagt die Zahl, die bei ihm drankommt. Das muss gehen wie ein Lauffeuer. Wer stockt oder sich verzählt, bekommt eine Ohrfeige. Wir zählen bis tausend."

      Das war wirklich lustig anzusehen. Mit ausgestrecktem Arm ging sie im Kreis herum. "Eins", begann der erste, dann der Nachbar mit "zwei", der nächste mit "drei", und immer so weiter. Dann beschleunigte sie ihren Schritt, schneller und schneller, bis schließlich einer sich irrte. Patsch – eine Ohrfeige! Durch das Gelächter verwirrt, irrte auch der nächste. Patsch! Und immer schneller wurde das Spiel. Ich selbst erhielt auch zwei Backpfeifen. Es bereitete mir einiges Vergnügen, dass diese stärker als die zu sein schienen, die sie an die anderen austeilte. Allgemeines Gelächter und einiges an Trubel beendeten das Spiel, noch bevor die Tausend erreicht waren. Das Gewitter war vorüber. Ich folgte Lotte zurück in den Saal. Auf dem Weg dahin sagte sie: "Über all die Ohrfeigen haben sie das Unwetter völlig vergessen!" Mir fiel keine Antwort darauf ein. "Ich selbst war eine der Ängstlichsten. Aber indem ich so tat, als wäre ich furchtlos, konnte ich den anderen Mut machen, und bin damit selbst mutig geworden."

      Wir traten ans Fenster. Aus der Entfernung hörten wir Donner, und ein wunderbarer Regen prasselte auf das Land. Durch die warme Luft stieg ein erfrischender Wohlgeruch zu uns auf. Sie stand da, auf ihre Ellenbogen gestützt, den Blick auf den Himmel und auch auf mich gerichtet. Ich entdeckte Tränen in ihren Augen. Sie legte ihre Hand auf die meine und sagte: "Klopstock!" Sofort erinnerte ich mich an das herrliche Gedicht, an das sie dabei dachte. Ich versank in den Strom der Empfindungen, der sich nach ihrer Bemerkung über mich ergoss. Ich konnte nicht an mich halten, beugte mich über ihre Hand, küsste sie mit wohligen Tränen in den Augen und blickte wieder in die Ihren. Schöpfer! Hättest du nur deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen! Nie wieder möchte ich deinen so oft entweihten Namen hören!

      19. Juni

      Wie weit ich neulich mit meiner Erzählung gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Alles, was ich weiß, ist, dass es zwei Uhr morgens war, als ich schließlich ins Bett fiel. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, dich vollzuquatschen statt dir zu schreiben, wärst du wohl bis zum Morgen wach geblieben.

      Was auf der Heimfahrt vom Ball geschehen ist, habe ich noch nicht erzählt. Auch heute ist nicht der Tag dafür.

      Was für ein herrlicher Sonnenaufgang das war! Dazu der taubedeckte Wald und die vom Regen erfrischte Landschaft rings umher!

      Nun doch etwas zu unserer Heimfahrt. Unsere Begleiterinnen waren eingenickt. Lotte fragte mich, ob ich es ihnen nicht gleich tun wolle, ihr würde es nichts ausmachen. Ich sah sie fest an. "So lange ich diese Augen offen sehe, werden meine sich nicht schließen." So hielten wir beide aus, bis wir am Tor ankamen. Die Magd öffnete leise die Tür. Auf Lottes Frage versicherte sie ihr, dass der Vater und die Kleinen wohlauf sind und alle noch schlafen. Ich verließ sie mit der Bitte, sie noch am selben Tag wiedersehen zu dürfen. Sie willigte ein, also bin ich wieder hingegangen. Seit dieser Zeit können Sonne und Mond meinetwegen treiben, was sie wollen. Ich weiß weder, ob es Tag ist oder Nacht. Die ganze Welt verliert sich um mich her.

      21. Juni

      Meine Tage sind so glücklich, wie sie Gott für seine Heiligen ausersehen hat. Was auch mit mir noch geschehen mag – niemals wieder darf ich behaupten, die höchsten Freuden des Lebens nicht genossen zu haben. Du kennst ja meine derzeitige Wahlheimat. Dort bin ich fest etabliert, nur eine halbe Stunde von Lotte entfernt. Dort finde ich zu mir selbst und zu allem Glück, das ein Mensch erfahren kann.

      Als ich meinen Wohnsitz wählte, um von hier aus meine Spaziergänge zu unternehmen, hätte ich nie gedacht, dass er so nah am Himmel liegt! Wie oft habe ich inzwischen das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche beheimatet, auf meinen ausgedehnten Wanderungen aus allen mögliche Richtungen betrachtet – mal vom Berg hinunter, mal von der Ebene aus, oder über den Fluss hinweg!

      Lieber Wilhelm, in letzter Zeit habe ich über so manches nachgedacht. Über den Drang des Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen. Und dann wieder über seinen inneren Antrieb, sich selbst bereitwillig einzuschränken, auf gewohnten Gleisen dahinzurollen und weder nach rechts noch nach links zu blicken.

      Ist es nicht phantastisch, hier zu sein und vom Hügel in das liebliche Tal zu blicken? Wie mich das alles magisch anzieht! Dort – das Wäldchen! Könntest du nur in seine Schatten tauchen! Da – die Bergspitze! Könntest du nur von dort ins endlose Land blicken! Und hier – die Hügelkette mit den vertrauten Tälern! Ich möchte mich so gerne in ihnen verlieren!

      Ich lief hin und kehrte zurück, und doch hatte ich nicht gefunden, was ich mir erhoffte. Mit der Ferne ist es wie mit der Zukunft. Die dämmrige Gesamtheit ruht über unserer Seele, unsere Empfindungen verschwimmen darin wie unser Blick. Und schließlich, die Sehnsucht! Man möchte sein ganzes Selbst hingeben, in höchster Seligkeit einem einzigen, großen, herrlichen Gefühl huldigen! Doch wenn wir darauf zustürzen, wird das Dort zum Hier, und alles davor ist wie danach. Da stehen wir nun in unserer Armut, unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele sehnt sich nach entschwundenem Glück.

      Am Ende sehnt sich auch der unruhigste Streuner wieder nach der Heimat und findet Erfüllung in seiner Hütte, an der Brust der Gattin, im Kreise seiner Kinder und in den Geschäften, um all dies zu erhalten. Das ist die Art von Erfüllung, die er in der weiten Welt vergebens gesucht hat.

      Wenn ich morgens bei Sonnenaufgang zu meinem geliebten Wahlheim hinausgehe, mir dort im Wirtsgarten meine Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze und sie herauspule, dazwischen in meinem Homer lese, mir dann in der Küche einen Topf suche, mit Butter ausstreiche, die Schoten aufsetze, zudecke und mich dazusetze, die Erbsen manchmal umrühre – dann fühle ich mich so lebendig wie die übermütigen Freier der Penelope, wenn sie Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Nichts erfüllt