Werthers Leiden. Emil Horowitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emil Horowitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748563303
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Wirtin meine Anweisung, ihn auszuzahlen.

      Sie sind ganz zutraulich, erzählen mir dies und das. Besonders unterhaltsam sind ihre Leidenschaften und naiven Ausbrüche des Begehrens, wenn weitere Kinder aus dem Dorf auftauchen. Einiges an Mühe hatte ich, der Mutter die Befürchtung zu nehmen, dass die Kinder mich belästigen könnten.

      30. Mai

      Was ich dir neulich über die Malerei erzählt hatte, gilt mit Sicherheit auch für die Dichtung. Es geht darum: Erkenne das Außergewöhnliche und spreche es aus. Damit ist mit wenigen Worten viel gesagt. Heute kam mir eine Szene unter, die die Welt in schönster Idylle zeigte, würde man sie nur so hinschreiben. Wozu in diesem Zusammenhang Dichtung, wozu Szene, wozu Idylle? Muss denn immer gekünstelt werden, wenn wir an der Natur Teil haben sollen?

      Erwartest du nach dieser Einleitung etwas Hoheitsvolles oder Vornehmes? Wieder einmal täuscht du dich. Diesmal war es ein Bauernbursche, ein einfacher Bauernbursche, der mich zu meinen lebhaften Betrachtungen verleitet hat. Wie gewöhnlich werde ich darüber recht und schlecht berichten. Und du wirst es wohl, wie gewöhnlich, übertrieben finden. Wieder ist es Wahlheim, immer wieder Wahlheim, das besondere Gelegenheiten wie diese hervorbringt.

      Da war diese Gesellschaft, draußen unter den Linden, Kaffee trinkend. Ich fühlte mich unter ihnen nicht wirklich wohl, daher blieb ich unter einem Vorwand zurück.

      Aus einem benachbarten Haus kam ein Bauernbursche und machte sich an dem Pflug zu schaffen, den ich neulich gezeichnet hatte. Er machte einen angenehmen Eindruck, daher begann ich ein Gespräch mit ihm, befragte ihn zunächst nach seinen Lebensumständen. Wir kamen uns näher und waren, wie es mir oft mit Leuten seiner Art geht, bald vertraut miteinander. Er erzählte mir, dass er in den Diensten einer Witwe stand und dort gut behandelt werde. Seine Beschreibung war so ausführlich und voller Lob, dass ich den Eindruck großer Zuneigung gewann. Er schien ihr mit Leib und Seele zugetan zu sein. Er erzählte, dass sie nicht mehr ganz jung sei. Ihr erster Mann hatte sie nicht gut behandelt, und nun wolle sie nicht mehr heiraten. Aus seiner Erzählung trat deutlich hervor, wie schön und anziehend er sie fand und wie sehr er sich wünschte, von ihr erhört zu werden, um bei ihr die Erinnerung an die Fehler ihres ersten Mannes auszulöschen.

      Ich müsste seine Rede Wort für Wort wiederholen, um dir seine lauteren Absichten, seine Liebe und seine Treue zu verdeutlichen. Mehr als das – ich müsste ein großer Dichter sein, um dir seine ausdrucksvollen Gebärden, seine harmonische Stimme und das heimliche Feuer seines Blicks, das alles gleichzeitig, auf lebendige Weise anschaulich zu machen. Mit keinem Wort könnte ich die Zartheit angemessen beschreiben, die sein ganzes Wesen und seinen Ausdruck auszeichnete. Alles, was ich darüber sagen könnte, klingt plump. Besonders anrührend fand ich seine Sorge, ich könnte sein Verhältnis zu ihr falsch auffassen und somit an ihrem einwandfreien Lebenswandel zweifeln. Nur im Innersten meiner Seele kann ich mir vergegenwärtigen, wie liebenswert seine Art war, von ihrer Gestalt, von ihrem Körper zu sprechen, der ihn auch ohne jugendliche Reize anzog und fesselte. In meinem bisherigen Leben habe ich noch niemals eine solche Reinheit bei der drängender Begierde und dem heißen, sehnlichen Verlangen gesehen, geschweige denn sie selbst so gedacht oder geträumt. Denke nicht schlecht von mir, wenn ich dir eingestehe, dass die Erinnerung an diese Unschuld und Wahrhaftigkeit meine Seele im Innersten zum Erglühen bringt, dass mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überallhin verfolgt. Wie sehr ich mich, selbst davon entzündet, unendlich danach sehne!

      Am liebsten würde ich sie selbst schnellstmöglich zu Gesicht bekommen. Das heißt – wenn ich es mir gründlich durch den Kopf gehen lasse, sollte ich es lieber lassen. Es ist wohl besser, ich sehe sie durch die Augen ihres Liebhabers. Mit meinen eigenen sehe ich sie vielleicht nicht so, wie sie mir jetzt erscheint. Warum soll ich mir das schöne Bild verderben?

      16. Juni

      Du fragst, warum ich dir nicht schreibe? Im Grunde bist du klug genug, um selbst auf den Grund zu kommen. Eigentlich solltest du erraten können, dass es mir gut geht, und dass ... Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die sich zu einer Herzensangelegenheit entwickelt. Ich habe ... ich weiß selbst nicht.

      Es wird mir recht schwer fallen, dir das Vorgefallene in der richtigen Reihenfolge zu berichten, zu beschreiben, wie ich eines der liebenswürdigsten Geschöpfe kennen lernen durfte. Ich bin vergnügt und glücklich – das macht mich zu einem schlechten Geschichtenerzähler.

      Sie ist ein Engel! Na ja, das sagt wohl jeder von der Seinigen, nicht wahr? Engel oder nicht, ich bin nicht imstande, dir zu beschreiben, wie vollkommen sie ist, oder warum. Was soll's. Sie hat alles von mir gefangengenommen.

      So viel Einfachheit trotz so viel Verstand. Sie viel Güte trotz so viel Festigkeit. Und im wahren Leben und der Betätigung darin die Ruhe der Seele.

      Ist das nicht ein schrecklicher Unsinn, den ich da über sie von mir gebe? Alles oberflächliche Abstraktionen, die nicht einen Hauch ihres Wesens angemessen beschreiben. Ich werde dir ein anderes Mal davon erzählen. Nein, nicht ein anderes Mal – gleich jetzt. Denn wenn ich es nicht jetzt tue, werde ich es niemals tun. Unter uns – seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, war ich schon drei Mal kurz davor, die Feder hinzuwerfen, mein Pferd satteln zu lassen und hinaus zu reiten. Noch heute Morgen habe ich mir geschworen, genau das nicht zu tun. Trotzdem gehe ich alle paar Augenblicke ans Fenster, um zu sehen, wie hoch die Sonne noch steht.

      Ich konnte mich nicht beherrschen – ich musste zu ihr hinaus. Jetzt bin ich wieder hier, Wilhelm. Ich werde mein Abendbrot essen und dir schreiben. Es ist so eine Wohltat für meine Seele, sie im Kreise ihrer acht Geschwister zu erleben, alles liebenswerte, muntere Kinder!

      Wenn ich so weitermache, bist du am Ende so klug wie am Anfang. Also, ich werde mich zwingen, ins Detail zu gehen.

      Ich schrieb dir letztens, wie ich den Amtmann S. kennengelernt habe. Er hatte mich gebeten, ihn bald in seiner Einsiedelei zu besuchen, oder sollte man besser sagen, in seinem Königreich. Ich hatte das bisher vernachlässigt und wäre wohl nie dahin gekommen, hätte ich nicht durch Zufall den Schatz entdeckt, der in dieser stillen Gegend verborgen liegt.

      Die jungen Leute am Ort hatten einen Ball auf dem Land geplant. Ich ließ mich nicht lange bitten, daran teilzunehmen. Ich bot einem hiesigen anständigen, schönen – und im Übrigen unbedeutenden – Mädchen meine Begleitung an. Wir vereinbarten, dass ich eine Kutsche organisiere und darin mit meiner Tänzerin und deren Cousine zum Veranstaltungsort hinausfahre. Es war geplant, auf dem Weg dahin Charlotte S. mitzunehmen.

      "Sie werden eine schöne Dame kennenlernen", sagte meine Begleiterin, als wir durch den weiten, gelichteten Wald zum Jagdhaus fuhren.

      "Nehmen Sie sich in Acht, dass Sie sich nicht verlieben!", ergänzte die Cousine.

      "Wieso?", sagte ich.

      "Sie ist schon an einen achtbaren Mann vergeben, der gerade verreist ist, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Sein Vater ist gestorben und der Nachlass muss geregelt werden." Diese Nachricht nahm ich ziemlich gleichgültig entgegen.

      Die Sonne stand noch eine Viertelstunde über den Gebirge, als wir vor dem Hoftor vorfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauen sorgten sich wegen eines drohenden Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfen Wölkchen rings um den Horizont anzukündigen schien. Ich zerstreute ihre Furcht mit meiner angeblichen Wetterkunde, obwohl in mir die Ahnung aufstieg, dass unser Vergnügen wohl einen Stoß erleiden würde.

      Ich war ausgestiegen. Eine Magd, die zu uns ans Tor kam, bat uns noch um ein wenig Geduld – Mamsell Lottchen werde gleich kommen. Ich ging durch den Hof auf das ansehnliche Gebäude zu, stieg die Treppe zum Eingang hinauf und trat durch die Tür. Da kam mir der reizendste Anblick vor Augen, den ich je gesehen hatte. Im Vorraum wirbelten sechs Kinder im Alter zwischen zwei und elf Jahren um ein anmutiges Mädchen herum. Sie war mittelgroß und trug ein einfaches, weißes Kleid, das an Armen und Brust mit blassrosa Schleifen geschmückt war. Sie hielt ein Schwarzbrot in der Hand und schnitt den Kindern reihum ein Stück ab, jedes nach Alter und Appetit in der passenden Größe, und gab es ihnen mit großer Freundlichkeit. Die Kinder, die ihre kleinen Händchen die ganze Zeit über in die Höhe gestreckt hatten, riefen ungekünstelt