Werthers Leiden. Emil Horowitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emil Horowitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748563303
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träumerische Resignation, das Bemalen der eigenen Kerkerwände mit bunten Gestalten und lichtschimmernden Aussichten. Ja, Wilhelm, das alles macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück – und finde eine Welt! Auch sie ist mehr Ahnung und dunkle Begierde als konkrete Darstellung und lebendige Kraft. So verschwimmt alles in meiner Vorstellung und ich lächle weiter träumend in meine Umgebung hinaus.

      Dass Kinder nicht wissen, was sie wollen und warum, ist allgemeine Erkenntnis aller Gelehrten. Aber kaum einer möchte glauben, dass auch Erwachsene wie die Kinder auf der Erde herumtaumeln und nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, dass sie wie Kinder nicht wirklich zweckmäßig handeln und gleichermaßen durch Zuckerbrot und Peitsche gesteuert werden. Ich finde jedoch, das alles ist buchstäblich mit Händen zu greifen.

      Ich gestehe dir gern: Meiner Meinung nach sind diejenigen die Glücklichsten, die wie die Kinder in den Tag hinein leben, ihre Puppen mit sich herumschleppen, sie aus– und wieder anziehen und erwartungsvoll um die Schublade herumstreichen, in die Mama die Süßigkeiten hineingesperrt hat. Und wenn sie sie endlich ergattert haben, verschlingen sie die Beute mit vollen Backen und rufen „mehr!“. Ich weiß, was du darauf antworten wirst, aber sind das nicht glückliche Geschöpfe? Andere fühlen sich wohl, wenn sie ihren Schweinereien oder Leidenschaften prachtvolle Titel geben und sie der Menschheit als grandiose Errungenschaften zu ihrem Nutzen und Wohl andienen. Sollen sie glücklich werden, die so sein können!

      Man kann auch eine demütigere Position einnehmen, erkennen, wohin das alles führt, sehen, wie jeder, der mit sich im Reinen ist, seinen Garten zum Paradies erblühen lässt, beobachten, wie sich auch der Unglücklichste unter seiner Bürde auf seinem Weg weiterschleppt. Jeder kämpft darum, das Licht der Sonne auch nur eine Minute länger zu sehen. Solche Erkenntnisse machen still, lassen einen seine Welt aus sich selbst bauen und machen froh, ein Mensch zu sein. Und dann, trotz aller Einschränkungen, im Herzen das süße Gefühl der Freiheit und die Gewissheit, den Kerker verlassen zu können wann immer man will.

      26. Mai

      Meine Neigung, mich an einem beschaulichen Ort in einer bescheidenen Hütte niederzulassen, und da unter einfachsten Verhältnissen zu hausen, kennst du ja von früher. Auch hier habe ich ein Plätzchen ausgekundschaftet, das mich fasziniert.

      Etwa eine Stunde von der Stadt entfernt liegt Wahlheim, ein Ort in interessanter Lage auf einem Hügel. Wenn man oben auf dem Fußpfad aus dem Ort herausgeht, hat man den Rundblick über das gesamte Tal. Es gibt eine tüchtige Wirtin, für ihr Alter recht freundlich und lebhaft, die Wein, Bier und Kaffee ausschenkt. Aber das Schönste sind zwei Linden, die mit ihren weit ausladenden Ästen den Platz vor der Kirche überwölben. Rings um den Platz sieht man Bauernhäuser, Scheunen und Höfe. Das ist ein Platz, so idyllisch und heimelig, wie ich schon lange keinen mehr angetroffen habe. Hierhin lasse ich mir von der Wirtin ein Tischchen und einen Stuhl bringen, trinke da meinen Kaffee und lese in meinem Homer.

      Meine erste Begegnung mit dem kleinen Paradies unter den Linden an einem sonnigen Nachmittag war von einem Gefühl der Einsamkeit geprägt. Alle Anwohner waren auf dem Feld, nur ein etwa vier Jahre alter Junge saß auf der Erde und drückte ein anderes, ungefähr halbjähriges Kind mit beiden Armen an seine Brust, so dass es wie in einem Sessel auf dem Schoß des Jungen saß. Ganz ruhig saß er da, aber aus seinen herumblickenden Augen sprühte er vor Heiterkeit. Der Anblick bereitete mir Vergnügen. Ich setzte mich gegenüber auf einen Pflug, und zeichnete gut gelaunt das niedliche Geschwisterpaar. Ich fügte den nahe stehenden Zaun zu, außerdem ein Scheunentor und einige gebrochene Wagenräder, alles in der Anordnung, wie ich es vorfand. Nach einer Stunde Arbeit hatte ich den Eindruck, dass mir eine gut strukturierte und interessante Zeichnung gelungen war, ohne dass ich irgend etwas aus meiner eigenen Phantasie zugefügt hatte. Das bestärkte mich in meinem Vorsatz, mir künftig ausschließlich Naturmotive vorzunehmen, denn nur die Natur verfügt über unerschöpflichen Reichtum, und nur sie kann große Künstler heranbilden.

      Es spricht einiges für die Beachtung dieser Regeln, in etwa wie bei der Würdigung der bürgerlichen Gesellschaft: Jemand, der sich nach diesen Regeln bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes oder Schlechtes hervorbringen, ganz so wie einer, der sich unter dem Einfluss von Gesetzen und Wohlstand entwickelt, nie ein unerträglicher Nachbar oder ein finsterer Bösewicht werden kann. Ganz anders die Regel, dass man reden darf, was immer man will. Diese Einstellung wird das wahre Gefühl von Natur und deren Ausdrucksmöglichkeiten zerstören! Jetzt sagst du vielleicht: „Das ist zu hart! Freie Rede wirkt nur regulierend, beschneidet die verwilderten Reben, etc.“

      Soll ich dir eine Analogie dazu geben, alter Freund? Es ist wie in der Liebe: Ein junger Mann widmet sich ganz und gar seinem Mädchen, verbringt alle Stunden des Tages mit ihr, opfert ihr seine gesamten Kräfte und sein gesamtes Vermögen, um ihr so seine uneingeschränkte Hingabe zu beweisen. Und dann kommt irgendeine Krämerseele, ein Philister, vielleicht ein Mann, der im öffentliche Dienst steht, und sagt zu ihm: „Mein Herr, lieben ist menschlich, also müssen Sie auch menschlich lieben! Teilen Sie Ihre Zeit ein: dieser Teil zur Arbeit, dieser zur Erholung. Die Erholungszeit können Sie Ihrem Mädchen widmen. Machen Sie eine Aufstellung Ihres Vermögens. Aus den Überschüssen können Sie ein Geschenk kaufen, da habe ich nichts dagegen. Aber nicht zu oft – zum Geburtstag, Namenstag oder ähnlichem. Wenn Sie diese Grundsätze befolgen, kann ein brauchbarer Mensch aus Ihnen werden, den ich in höchste Ämter empfehlen kann. Das Thema Liebe ist dann natürlich erledigt, und – im Falle eines Künstlers – auch die Kunst.

      Geschätzte Freunde, ihr fragt euch, warum der Strom des Genies so selten ausbricht, um als Springflut über euren staunenden Seelen zusammenzuschlagen? Vertraut ganz auf die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers, deren Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder von einer solchen Flut zugrunde gehen würden, und die daher rechtzeitig Dämme und Ableitungen gegen die drohende Gefahr errichten.“

      27. Mai

      Ich bemerke, wie ich meiner Verzückung verfalle, mich in Gleichnissen und Deklamationen verliere. Das hat mich fast vergessen lassen, dir zu berichten, wie es mit den Kindern weiterging. Wie ich dir in meinen gestrigen Zeilen berichtete, saß ich, in malerische Reflektionen vertieft, auf dem Pflug. Nach etwa zwei Stunden kommt eine junge Frau auf die Kinder zu, die sich bis dahin nicht gerührt hatten. „Bist ein braver Junge, Philipps“, ruft sie schon aus einiger Entfernung. Sie grüßt mich, ich erwidere den Gruß, stehe auf und gehe auf sie zu. Sie bejaht meine Frage, ob sie die Mutter der beiden Kinder sei, gibt dem älteren ein halbes Brot, nimmt das kleine in den Arm und küsst es zärtlich. „Ich habe meinem Philipps den Kleinen zum Halten gegeben, damit ich mit meinem Ältesten in die Stadt gehen konnte“, sagt sie. „Ich habe Weißbrot und Zucker geholt, und ein kleines Breipfännchen.“ Vom Korb war der Deckel abgefallen, und ich sehe die Gegenstände darin. „Ich will für meinen Hans (das ist der Name des Jüngsten) am Abend eine Suppe kochen, aber mein Großer, dieser Schlingel, hat gestern das Pfännchen zerbrochen, als er sich mit Phillips um einen Breirest zankte.“

      Ich fragte nach dem Ältesten, sie erzählte mir, dass er auf der Wiese mit den Gänsen herumjage. Da kam er auch schon angelaufen und hatte dem Zweitältesten eine Haselgerte mitgebracht. Wir unterhielten uns weiter, und ich erfuhr, dass sie die Tochter der Lehrers ist und dass ihr Mann in die Schweiz gereist war, um sich dort die Erbschaft eines Vetters zu sichern. „Die haben ihn drum betrügen wollen“, sagte sie. „Auf seine Briefe kam keine Antwort, also ist er selbst hingefahren. Hoffentlich ist ihm nichts passiert, ich höre nichts von ihm.“ Es fiel mir schwer, mich von der Frau loszureißen. Ich gab jedem Kind einen Kreuzer, den für das jüngste drückte ich der Frau in die Hand, damit sie beim nächsten Gang in die Stadt für das Kind ein Brot kaufen kann. Schließlich gingen wir auseinander.

      Eins kann ich dir sagen, lieber Freund: Wenn ich meine Emotionen gar nicht mehr im Zaum halten kann, beruhigt der Anblick eines solchen Wesens das Chaos in meinem Kopf, wie sie da in glücklicher Gelassenheit durch ihre kleine Welt geht, sich selbst von einem Tag in den nächsten hilft, die Blätter von den Bäumen fallen sieht und nichts dabei denkt, als dass der Winter kommt.

      Seither bin ich oft draußen. Die Kinder haben sich längst an mich gewöhnt. Sie bekommen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und abends teilen sie sich mit mir das Butterbrot