Bevor die Welle bricht. Dirk Harms. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Harms
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750204362
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er darüber nachgegrübelt, warum ihm trotz der idealen Lage seine kleine Fernsehantenne einen so miserablen Westempfang bescherte. Natürlich ahnte er, woran das liegen musste - und verbrachte seitdem fast jede freie Minute, die er allein war, vor dem Funkgerät.

      Hin und wieder hatte er schon mit Amateurfunkern in Hamburg und Nykobing Kontakt gehabt, ein Kraftfahrer aus Riesa hatte mit ihm über Fußball gesprochen, und vor ein paar Tagen schien sein Kasten kaputt zu sein - da ging gar nichts mehr. Dass er bei Überreichweiten bis über die Staatsgrenze hinweg senden und von dort empfangen konnte, das war jetzt offensichtlich vorbei.

      Es waren zwei Befestigungsschrauben auffallend locker gewesen. Der Leuchtturmwärter nahm an, dass er auf dem Turm Besuch gehabt hatte, während er im Ort etwas einkaufte. Dass der Staatssicherheitsdienst eifrig mithörte und den CB-Funkverkehr überwachte, galt als offenes Geheimnis. Vermutlich mussten sie dazu so etwas wie eine Wanze in das Teil einbauen - oder ihn einfach auf dem Kanal anzapfen. Warum sollten sie dann nicht auch Störgeräusche fabrizieren können?

      Lars musste in seinem neuen Betrieb erstmal eine Gardinenpredigt des Vize-Chefs Hans König erdulden. Wie er studiert haben könne, ohne auch nur Kandidat der SED zu sein, wurde er ungläubig von dem korpulenten Mittvierziger gefragt. Lars führte das auf seinen einwandfreien Abiturdurchschnitt zurück. Dennoch, ohne Kandidatur wäre ein Weiterkommen kaum möglich, nannte König das Kind beim Namen. Lars verstand nicht, was Parteiarbeit mit Karriere zu tun haben sollte und bat sich Bedenkzeit aus. König, nun skeptisch geworden, musterte den Frischling und entgegnete genervt, wenn er sich nicht auf ihn verlassen könne, dann sei Lars ungeeignet trotz des Studiums. Die Planvorgaben kämen immerhin aus Berlin, denn es ginge hier um Außenhandel.

      „Ist ja gut, Herr König. Entschuldigen Sie, aber das kommt ein wenig plötzlich. Ich möchte das gern mit meiner Frau zu Hause besprechen. Das wird doch wohl möglich sein, oder?“ König, der darauf bestand, von Lars geduzt und Hans genannt zu werden, außer bei offiziellen Anlässen, da sei er mit „Genosse König“ anzureden, verlor ein wenig von seiner Skepsis und legte dem Neuen versöhnlich die Hand auf die Schulter. „Schau mal, Junge. Denk doch bloß mal an die Perspektive in diesem Beruf. Du bist doch intelligent und vernünftig. So und nun danke für deine Zeit, und ab zurück in deine neue Abteilung.“

      Damit konnte Lars das Büro von König verlassen und musste sich sputen: Er hatte in wenigen Minuten eine Sicherheits- und Arbeitsschutzbelehrung. Als er im Fahrstuhl eben den Knopf drückte, kam eine brünette junge Frau mit einem Stapel Akten auf dem Arm angelaufen. Flink betätigte er nochmals den Türöffner und stellte gleichzeitig seinen Fuß vor die sich schließende Schiebetür.

      „Danke, sehr freundlich!“

      „Keine Ursache.“ Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

      „Sind Sie neu hier?“

      „Ja. Lars Schuster.“

      „Angenehm. Ach, Sie sind das … “

       „Wieso? Sie haben von mir gehört?“

      „Ja, nur den Namen, und dass Sie hier anfangen sollen.“

      „Und darf ich Ihren Namen auch wissen, oder ist der geheim?“

      „Verzeihung, wo hab ich nur meinen Kopf. Anja Tillmann. Ich bin aus der Materialverwaltung im Vierten.“

      Sie gab ihm unter dem Aktenberg hindurch die Hand. Der Fahrstuhl kam zum Stillstand, und Kollegin Tillmann verließ ihn.

      Sie sieht nett aus, dachte Lars. Etwas jünger, und … ach Quatsch. Er hatte ja Lisa, und er liebte sie.

      Während der Versammlungspause drückte König ihm einen Aufnahmeantrag als Kandidat in die Hand.

      „Glaub mir, das wird dir helfen.“

      „Und was ist mit euch Genossen? Was nützt es euch?“

      König hielt inne und wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen Lars zu. „Was soll das heißen? Willst du uns nicht unterstützen? Wir brauchen junges, frisches Blut in unseren Reihen. Eben die Ungestümtheit der Jugend. Und dir bringt es auch was.“

      „Frisches Blut? Wie die Vampire? Aha. Und wie heißt dieses Wort? Un-ge-stümt-heit?“

      „Lars, mach dich nicht lustig über uns! Wer nicht für uns ist, ist folglich gegen uns. Willst du wirklich alles riskieren, Junge?“

      „Also ist bei diesem Arbeitsplatz quasi ein Parteibuch im Preis enthalten?“, fragte Lars schmunzelnd und dachte:

      Da siehst du es, Genosse König: Ich mach mich nicht lustig, ich bin lustig.

      Lars meinte allmählich zu erkennen, worum es hier ging: Ein Parteibuch bekam man hier so oder so aufs Auge gedrückt - einfach, weil alle in der Partei waren. Es ging nicht ums Helfen oder Mitgestalten, es ging darum, nicht ausgegrenzt und schikaniert zu werden. Was aber, wenn er einer anderen Partei der Nationalen Front nahestand?

      Er nahm den Antrag demonstrativ in die Hand und sagte zweideutig zu König: „Ich überlege es mir.“ Damit ließ er den kopfschüttelnden Vize-Chef stehen und begab sich zurück zu seinem Platz, denn die Versammlung sollte fortgesetzt werden.

      Es ging um Zeitmanagement im verwaltungstechnischen Ablauf, insbesondere bei der Erledigung wichtiger Terminsachen wie der Vorbereitung von Vertragsunterlagen. Dreh- und Angelpunkt war die Akquise potenzieller Käufer für die auf den Werften an der Ostsee im Bau befindlichen Supertrawler oder Containerschiffe. Alle zahlungstechnischen Planungen und Abläufe durchliefen neben der Buchhaltung des Betriebes unter anderem die Bereiche Finanzen und Kredite.

      Arbeitsschutz spielt nur am Rande der Tagesordnung eine Rolle. In Sachen Brandschutz erklärte der verantwortliche Obmann des Betriebes nur, dass eine Feuerschutztür im Keller repariert worden sei und alle Feuerlöscher im Hause funktionstüchtig seien. Das allein hätte keiner Versammlung bedurft, daher besprach man hier eben auch gleich interne Arbeitsabläufe.

      In seiner ihm zugewiesenen Abteilung sah Lars zwei Kolleginnen bei der Arbeit über die Schulter, während sie ihm zwischendurch immer wieder die Zusammenhänge und die Arbeitsschritte erläuterten. Oft bedurfte es dabei der Abstimmung mit anderen Abteilungen, so dass sie immer wieder im Hause auf verschiedenen Etagen unterwegs waren, wobei sie Lars überall als „den Neuen“ vorstellten. Es herrschte ein herzliches, vertrauliches Miteinander, eine Atmosphäre, die sich wie selbstverständlich auf ihn übertrug. Man redete im Plauderton miteinander, scherzte, lachte und rauchte zusammen - aber nicht, ohne mit der Arbeit aufzuhören. Dem Neuling schwirrte der Kopf. Sogar die Ohren klangen ihm, als der Feierabend endlich in greifbare Nähe rückte. Und nun sollte er mit Lisa zu Hause auch noch über den Antrag in seiner Tasche reden?

      Auf der Rückfahrt verließ er den Bus drei Stationen vorher. Unweit des Leuchtturmes stieg er aus und wollte den Weg zu Fuß fortsetzen. Täuschte er sich, oder trug der Wind vom Turm her laute Stimmen zu ihm herüber? Das konnte ihm egal sein - vielmehr beschäftigte ihn sein neues Leben, welches augenscheinlich aus Lisa und aus seiner verantwortungsvollen Arbeit bestehen sollte. Gab es darin wirklich Platz für endlose, staubtrockene Parteiversammlungen mit langweiligen Phrasen und Kursbestimmungen?

      Wo ein Genosse ist, da ist die Partei!, keifte die Wandzeitung auf dem Betriebsflur im Erdgeschoss jeden Mitbürger an, der das Gebäude betrat, noch bevor er sich überhaupt an den Pförtner wenden konnte.

      Wer näher kam, konnte dann Parolen lesen wie:

       Aus jeder Mark, jeder Stunde Arbeitszeit und jedem Gramm Material einen höheren Nutzeffekt!

      Jetzt, da Lars diese mit rotem Fahnenstoff bespannte Wandzeitung einfiel, zog er in Betracht, der Parteiarbeit mit seinen Ideen frischen Wind zu verleihen und Dinge anzusprechen, die sich ändern müssten. Scheinbar kam er nicht um eine Kandidatur herum. Man würde ihm berufliche Wege verbauen und es ihm zeitlebens vorhalten, wenn er es nicht wenigstens Lisa zuliebe tat.

      Sie wirkte nachdenklich und verschlossen und begrüßte ihn mit einem flüchtigen Kuss, ohne jegliches Lächeln. Etwas bedrückt