Bevor die Welle bricht. Dirk Harms. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Harms
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750204362
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größere Kreisstadt Strandfelde an. Bis zum Arzttermin war noch Zeit, deshalb würde sie entweder im Deichpark spazieren gehen oder am Bahnhof in der MITROPA einen türkischen Kaffee trinken. Andere Geschäfte und Kioske hatten so früh am Morgen noch geschlossen. Das Geschehene hatte sie ziemlich aufgeregt. Sie musste sich sammeln, die Gedanken ordnen. Lars. Immer wieder dachte sie an ihn. Eine quälende Ungewissheit vernebelte ihr die Sinne. Wie gut kannte sie ihren Freund? Hatten diese Typen überhaupt mit ihm gesprochen? War ihr Lars, den sie immer für ehrlich, optimistisch und prinzipientreu hielt, am Ende weich geworden? Wenn ja, dann mussten sie ihn unter Druck gesetzt haben. Aber wenn nicht, dann hatten sie ihr gegenüber geblufft. Nein, sie würde nicht an ihm zweifeln. Das schafften diese Typen nicht.

      Mechanisch stieg sie in die Straßenbahn zum Bahnhof und grübelte weiter. Plötzlich presste sie die Nase gegen die Fensterscheibe - da draußen, war das nicht Lars? Er stand neben einem Lada mit vier Frontscheinwerfern. Das war das schnelle, limitierte Modell, wie hochrangige Funktionäre es fuhren. Stasileute, Regierungsbeamte, Offiziere. Lisa wusste es von ihrem Vater. Er hatte ihr beigebracht, scharf und genau zu beobachten und immer dem Instinkt zu vertrauen. Im Vorbeifahren sah Lisa, wie ihr Freund die Hand eines kultiviert wirkenden älteren Herren schüttelte, lächelte und mit ihm in das Fahrzeug stieg. Was hatte das alles zu bedeuten? Sollte ihr gerade beginnendes eigenes Leben unter einem schlechten Stern stehen? Eine innere Unruhe bemächtigte sich Ihrer. Sicher würde Lars ihr das heute beim Abendbrot erklären. Welche Rolle dieser Mann auch spielte - er konnte alles sein: Kollege, Vorgesetzter, Mentor, Führungsoffizier. Sicher aber war er ein Genosse.

      Laut klingelnd ratterte die Bahn der Endhaltestelle am Bahnhof entgegen. Jeglichen weiteren Gedanken an eine Zusammenarbeit mit den Mantelträgern verschob Lisa angesichts eines großen dampfenden Kaffees. Die Mitropa-Gaststätte war menschenleer um diese Tageszeit.

      „Warten Sie auf einen der Züge?“, wollte die freundliche Kassiererin wissen. Sie bekam nur ein Kopfschütteln und ein angedeutetes Lächeln als Antwort.

      „Aah, verstehe: Sie holen jemanden ab, nicht wahr?“

      „Ja … ähm, nein. Kann ich trotzdem hier meinen Kaffee … ?“

      „Aber Frollein, natürlich! Hier müssense nicht vorab reservieren. Wir haben zwar nicht viel, aber Platz haben wir hier reichlich!“

      Lisa nickte der Frau hinter der Kasse zu und setzte sich an einen freien Zweiertisch.

      Neben der Eingangstür bemerkte sie einen nicht mehr ganz jungen Mann, der in einer Zeitung las und in einem Glas Tee rührte. Wie sie führte der Fremde kein Gepäck mit sich. Kraftfahrer ist er, vermutete sie, und dem Anzug nach zumindest kein Arbeiter.

      Er rührte im Teeglas und schaute ihr plötzlich mit stechendem Blick direkt ins Gesicht. Kühl, fast drohend musterte er sie einen Moment, bevor er sich wieder der Zeitung zuwandte. Dieser Wimpernschlag hatte genügt, um Lisa eine Gänsehaut zu bescheren. Der kennt mich, glaubte sie plötzlich. Vorher hatte Lisa nie einen Gedanken daran verschwendet, dass sie für das MfS von irgendeinem Interesse sein könnte. An diesem Morgen im Auto der zwei Stasileute hatte sie das erste Mal darüber nachgedacht.

      Nun, da sie hier ihren Kaffee trank wusste sie, dass Misstrauen fortan ihr ständiger Begleiter sein würde.

      03

      Toralf strich sich über sein graues Haar, während er vor dem Spiegel ein Lied summte. „Wie das Meer bei Ebbe“, murmelte er und betrachtete seine immer höher werdende Stirn. Und sein Bart war auch schon wieder gewachsen, dabei hatte er zum Rasieren weder Zeit noch Lust.

      Auf Radio DDR kam eine Zeitansage nach der anderen, wie immer, wenn der Morgen eines Wochentages dämmerte. Er bemerkte den noch dunklen Nachthimmel und ließ dann den Blick über das Meer bis zum Horizont gleiten. Weit draußen lag ein Schiff auf Reede, das musste die „Pawel Kortschagin“ sein. Ein weiteres Schiff konnte er selbst mit dem neuen Fernglas aus dem VEB Carl Zeiss Jena nicht ausmachen. Das sei ein Exportschlager und nur über Genex zu bekommen, hatte Peter ihm erklärt, als er es ihm aushändigte. Toralf wollte es nur als Leihgabe annehmen, fürchtete er doch, er müsse sich dafür dazu herablassen, Spitzel zu werden.

      Peter Schulze, dem sofort auffiel, dass er von dem Leuchtturmwärter mit Zopf und fliehender Stirn nicht so viel verlangen konnte, hätte ihn an diesem Nachmittag unter Druck setzen können. Stattdessen strebte er einen versöhnlicheren Kurs an und kam mit Toralf nach einigem Hin und Her überein, ihn hin und wieder mit dem einen oder anderen Freund „zwanglos auf einen Tee“ wie er sagte, besuchen zu dürfen.

      Der Leuchtturmwärter zögerte: „Das sind doch solche geheimen Treffen, oder? Das will ich nicht.“

      „Ach, hab dich nicht so, du kennst mich doch … Die besten Sachen entstehen im Verborgenen. Du wirst mich kaum bemerken, ehrlich. Und ich werde dein Entgegenkommen nicht vergessen.“

      Peter Schulze sah den ehemaligen Schulkameraden an und dachte bei sich: Muss ich dir erst wieder die Unterhosen stramm ziehen wie damals? Ich krieg dich schon weich, alte Memme, du kleiner Ja-Sager.

      „Weißt du was? Behalt das Fernglas. Und sei einfach dabei, wenn ich mich mit den Leuten unterhalte. Es geht darum, subversive Kräfte rechtzeitig zu erkennen. Das hat nichts mit Spionage zu tun. Meinst du, in der Industrie und der Wirtschaft gibt es das nicht? Konkurrenten kupfern gegenseitig voneinander ab, besonders im Kapitalismus ist das so. Da geht es nicht um Bedürfnisbefriedigung, mein Lieber, da geht es um den schnöden Mammon. Und darum, wer beim Absatz die Nase vorn hat, jawohl! Sie nennen es dort Vertrieb.“

      „Subversiv, ja? Du meinst, potenzielle Abhauer? Ausreiseantragsteller? Die planen nichts gegen unser Land, Mann, die planen nur ihre eigene Zukunft!“

      „Ach Quatsch. Denkst du, die werden drüben einfach so mit Kusshand aufgenommen, aus reiner Nächstenliebe? Das klappt nur bei denen, die Informationen liefern, die den Staat verraten. Der Klassenfeind ist nicht sozial. Aber“ - Peter Schulze machte eine einladende Geste und wurde versöhnlicher - „Weißt du was, überzeuge dich selbst, sei bei den ersten Treffen dabei. Und dann wird es auch nicht allzu oft sein. Du willst doch weiterhin diese frische klare Seeluft hier in Dünow atmen, oder?“

      Er musterte Toralf aufmerksam.

      „Ich habe nicht vor, abzuhauen, wenn du das meinst.“

      Schulze lachte auf. „Schön, dass du so offen bist. Aber das meinte ich nicht. Ich möchte, dass du auch weiterhin deine Freiheit genießt. Ich werde sie dir keinesfalls nehmen. Schon gar nicht, solange wir gute Kumpels sind und uns gegenseitig helfen. Haben wir uns verstanden? Los Alter, lass uns das mal bei einem Klaren besiegeln!“

      Was hat dieser Idiot denn eigentlich in der Hand gegen mich, fragte sich Toralf. Widerwillig stand er auf und holte die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank. „Den habe ich dir auch besorgt, oder?“, erinnerte ihn sein Gegenüber und wies hinüber zur Kochecke.

      Stirnrunzelnd unterschrieb Toralf ein Blatt Papier. Dabei fiel sein Blick auf die CB-Funkanlage, sein Steckenpferd und ganzer Stolz.

      Sein verhasster Schulkamerad aus alten Tagen, der sich seit dem Ende der Schule immer gern freundschaftlich, kumpelhaft und einfühlsam gab, klopfte dem Leuchtturmwärter auf die Schulter.

      Sie würden voneinander hören, bald sogar. Als er wenig später wieder allein war, plagten Toralf Gewissensbisse. Wenn er nun behauptete, unter Druck gesetzt worden zu sein – wo würde er Gehör finden, wer würde ihm glauben – und von wem durfte er letztendlich Hilfe erhoffen?

      Nein, befand Toralf, er hatte keine Wahl gehabt. Es war ein Kompromiss. Einer, der notwendig war, um anderen helfen zu können, beruhigte er sein Gewissen. Ein lautes Rattern riss ihn aus düsteren Gedanken.

      Die Wetterstation, deren Zentrale sich in einer kleineren Immobilie in Strandnähe befand, teilte ihm per Fernschreiber an diesem noch jungen Morgen mit, es sei Frühnebel zu erwarten, und ansonsten werde es ein wolkenarmer, sonniger Tag.

      Wie froh war Toralf, dass er hier oben auf seinem Turm