Sichelland. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844242553
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verschwieg.

      „Hoher Shaj, ich fürchte, ich kann euch nur wenig Neues berichten.“ keuchte der Hauptkämmerer, als er an diesem Abend in Imras Arbeitszimmer trat.

      „Wenig ist besser als nichts. Setz dich, Afnan, nimm dir einen Tee und erzähle, was du herausgefunden hast.“

      „Akosh wurde seit Tagen nicht mehr gesehen. Man munkelt, er könne der unbekannte Besucher gewesen sein, mit dem die Oberste Heilerin sich des nachts in der Bibliothek getroffen hat, aber das ist natürlich vollkommener Unfug. Gesehen hat ihn dabei niemand. Einige Leute im Dorf sagen, er hätte den „Anbruch der Nacht“ von einem Hügel nahe der Kasernen aus beobachtet und sei in Begleitung einer jungen Frau gewesen, aber auch das lässt sich nicht beweisen. Ansonsten verliert sich seine Spur. Er hatte in den letzten Wochen kaum Kontakte. Ein- oder zweimal sei er in zwielichtigen Gegenden aufgetaucht, aber das hat ebenfalls nichts zu sagen.“

      „Was meinst du mit zwielichtigen Gegenden? Hier, in Semon-Sey?“

      „Hoher Herr, die Leute reden viel. Und auch wenn sie es nicht zugeben, so begegnen sie den „Wölfen“ doch mit Angst und meiden die Straßen, in denen sie leben.“

      „Akosh wurde in Gesellschaft der 'Wölfe' gesehen?“ fragte Imra ungläubig.

      „Nicht in ihrer Gesellschaft, Herr, aber er hielt sich in der Nähe ihrer Unterschlüpfe auf. Ein Zufall, wenn ihr mich fragt.“

      „Sicher...“ Imra wurde nachdenklich. „Ein Zufall....“ Dann schüttelte er den Gedanken wieder ab. „Was noch?“

      „Der alte Menrir wurde gesehen. Am östlichen Stadttor, in der vergangenen Nacht. Der Wachposten meinte, dort sei auch Akosh einige Stunden zuvor vorbeikommen. Sie sind nach Osten gegangen.“

      „Du sagtest doch, man hätte den Schmied seit Tagen nicht gesehen? Dafür weißt du aber erstaunlich viel über ihn. Er hat die Nähe zu den Wölfen gesucht und hat die Stadt in Richtung Osten verlassen.“

      „Aber er hat mit niemandem gesprochen. Und die Beschreibungen waren in allen Fällen sehr vage, niemand war sich ganz sicher, dass wirklich er es war. Noch nicht einmal der Soldat am Stadttor.“

      „Also nur Vermutungen. Nehmen wir einmal an, es stimmt. Warum sollten Menrir und Akosh nach Osten ziehen? Dort gibt es doch nichts. Waren sie die einzigen?“

      Afnan zögerte.

      „Der Wächter sagte noch etwas von zwei jungen Damen. Aber da war wohl eher der Wunsch der Vater des Gedanken.“

      Imra schüttelte ungehalten den Kopf.

      „Warum sollte er sich so etwas ausdenken? Zwei junge Damen also. Das ist seltsam. Eine, das hätte ich noch verstanden, aber zwei? Wie sahen sie aus?“

      „Sie trugen weite Umhänge und hatten ihre Kapuzen hochgeschlagen. Sehr hübsch sollen sie beide gewesen sein, aber mehr weiß ich nicht. Möglicherweise waren es Hetairen aus der Stadt, die Akosh und Menrir sich an einen ungestörten Ort bestellt haben.“

      Der Mund Imras verzog sich zu einem schmalen Strich.

      „Mit solchen Anschuldigen solltest du vorsichtig sein.“ sagte er streng. „Ich frage dich ganz direkt – besteht die Möglichkeit, dass eine der beiden Damen die Oberste Heilerin war?“

      Afnan wurde bleich.

      „Ihr meint die Dienerin Sara? Ganz gewiss nicht, Herr! Mit Menrir mag sie ja befreundet sein, aber zufällig weiß ich, dass sie vom Herrn Akosh nicht mehr sehr angetan ist. Außerdem würde sie es nie wagen, die Stadt zu verlassen, selbst jetzt nicht, da die Hohe Shaj der Nacht fort ist.“ Afnan klang so überzeugt, dass er Imra schon fast leid tat.

      „Was meinst du damit, sie wäre von Akosh nicht mehr so angetan?“

      Nun fühlte sich der Kämmerer wirklich unwohl in seiner Haut. Es lag ihm nicht, Gerüchte zu verbreiten und er wusste nicht einmal halb so viel, wie notwendig wäre, um dem Shaj der Erde eine zuverlässige Aussage bieten zu können. Und hatte er nicht sein Wort gegeben, mit niemandem darüber zu sprechen? Andererseits – wenn er Imra nicht vertrauen konnte, seinem Herrn, wem dann?

      „Du musst nichts sagen.“ kam ihm der Herr der Handwerker zu seiner Erleichterung zuvor. „Ich kann es mir in etwa denken und habe selbst schon Informationen erhalten, die diesen Eindruck vermitteln. Trotzdem erwarte ich, dass du mir in Zukunft alles berichtest, was du über diese Angelegenheit in Erfahrung bringst. Außerdem wirst du dein Möglichstes tun, herauszufinden, wer diese beiden Frauen waren und wohin Menrir und Akosh gegangen sind – falls es sich wirklich um die beiden handelte.“

      „Ja, Herr.“

      „Und nun schick mir den alten Wandan, ich möchte dringend mit ihm sprechen. Ist Mondor noch in Vas-Zarac?“

      Afnan nickte eifrig. „Ja, ich habe ihm heute morgen persönlich sein Frühstück serviert. Aber ich glaube nicht, dass er noch lange bleiben wird. Und auch der Herr Wandan macht sich wohl schon zur Abreise bereit.“

      „Wie dem auch sei – Ich wünsche beide heute noch zu einer Unterredung zu treffen. Meinetwegen auch gleichzeitig. Sieh zu, wen du zuerst erreichst. Ich warte hier in meinem Arbeitszimmer.“

      Erst als Afnan hinausgegangen war, wurde Imra bewusst, dass er bei diesem Gespräch mit dem Kämmerer eine neue Seite an sich gezeigt hatte. Er konnte also sehr wohl auch streng und energisch sein und seinen Willen zeigen. Früher hatte er auf solche Eigenschaften keinerlei Wert gelegt. Aber als Shaj war es nötig, sich Respekt zu verschaffen und zu seinen Entscheidungen zu stehen. Vielleicht war es Ash-Zaharrs Geist, der noch in ihm nachklang und ihm dabei half, diese Herausforderungen zu bestehen.

      Akosh und Menrir hatten sich von den anderen zurückgezogen. Es war dem Schmied ein Bedürfnis, sich mit dem alten Heiler unter vier Augen auszutauschen. Er war nicht ganz so müde wie alle anderen, obwohl auch er in den letzten Tagen kaum Schlaf gefunden hatte. Vielleicht waren es andere Gefühle, die ihn wachhielten. Er war ein halber Batí und Angst hatte in ihm nur selten Platz, doch diesmal konnte er sie nicht leugnen. Es war nicht der Tod, den er fürchtete, sondern sein eigenes Scheitern und die Folgen, die damit verbunden waren. Zudem war er nun wider Willen verantwortlich für das Wohlergehen der Weggefährten, die sich ihm angeschlossen hatten. Es war ihr Wunsch gewesen, ihn zu begleiten und er hatte keine andere Wahl gehabt, als sich ihm zu beugen, auch wenn er lieber allein losgezogen wäre. Nur einer aus der Gruppe war nach wie vor unentschlossen und dieser eine saß jetzt vor ihm und wartete darauf, dass der Schmied das Gespräch begann.

      „Wie oft.....“ begann der einstige Cas langsam, „..hast du in letzter Zeit an deinen Sohn gedacht, Menrir?“

      Der Alte ließ sich nicht anmerken, ob ihn die Frage überraschte.

      „Ich versuche, nicht an ihn zu denken.“ gestand er.

      „Weil du weißt, dass Lennys ihn töten will?“

      „Seltsamerweise glaube ich nicht, dass sie das tun wird. Und wenn... dann werde ich es nicht verhindern können.“

      „Er ist nach Iandal ihr größter Feind geworden. Und er bedroht unser Land. Er hat Gefangene genommen. Sie wird keine Sekunde zögern.“

      Menrir lächelte schwach.

      „Weißt du, Akosh, ich bin kein Sichelländer. Ihr könnt nicht in die Zukunft sehen und ich kann es auch nicht. Trotzdem… irgendetwas sagt mir, dass das wovon du sprichst, noch nicht geschehen wird. Vielleicht bald, aber eben jetzt noch nicht. Mein Sohn will nichts mehr von mir wissen, für ihn bin ich ein Verräter, der sich mit dem verabscheuungswürdigen Sichelland verbrüdert hat. Was sollte ich tun? Ihn warnen, dass die beste Kriegerin eures Landes auf dem Weg zu ihm ist? Denkst du nicht, dass er das längst weiß? Und denkst du, er würde mich überhaupt anhören? Nein. Ihr könnt das nicht begreifen, aber trotz allem, trotz all seines Unrechts und seiner Verbrechen, ist er immer noch mein eigenes Fleisch und Blut. Und trotz allem vertraue ich ihm und seiner Klugheit. Er wird nicht in seinem Palast warten, bis ein paar Sichelländer kommen,