Die Überschwänglichkeit der beiden raubte mir den letzten Nerv. Seit drei Monaten ging das nun so. (So lange arbeitete Håkon bereits für beziehungsweise mit uns.) Der Grund, aus dem ich mir bisher noch keinen Strick genommen hatte, war, dass Frau Hæreid hier in der Regel nur ein- oder zweimal die Woche nach dem Rechten schaute und uns – Susann Jørgensen und mir – ihren zwei Hauptangestellten, ansonsten freie Hand ließ. Sie brachte uns reichlich Vertrauen entgegen. Sie wusste, dass sie das konnte. Wir hatten uns bewährt. Im Großen und Ganzen.
Nur während der Weihnachtszeit schlug sie hier quasi ihr Zelt auf und machte unsere mühsam erarbeitete Routine mit ihrer bloßen Anwesenheit zuschanden. Nicht, weil sie glaubte, dass diese Zeit unsere Kompetenz übersteigen würde und wir, ihr panisch umherrennendes Rudel, eine Hirschkuh nötig hatten, die uns vor katastrophalen Zusammenbrüchen bewahren musste, sondern schlichtweg weil sie hier, nicht anders als wir, das einzigartige Ambiente mit allen Sinnen lebte. Es war die Zeit, in der wir alle nach etwas suchten, das uns das Weihnachtsgefühl eingehend vermitteln konnte. Und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als das Weihnachtshaus? Frau Hæreids Weihnachtshaus!
Dennoch machte mir das gestellte Verhältnis zwischen Håkon und Frau Hæreid zu schaffen. Ihre Begegnungen waren immerzu von Gefühlsausbrüchen begleitet und ihre Unterhaltungen furchtbar ausgedehnt.
Andererseits war dies nun die perfekte Gelegenheit, um mir eben meinen Mantel und die Pudelmütze überzuwerfen, denn es warteten noch so einige Kartons und Kisten in dem Transporter darauf, ebenfalls ins Lager verladen zu werden. Außerdem mussten einige große, mittlere und kleine Pakete – zusammengestellt für Kunden aus ganz Europa, die in den letzten drei Tagen über unseren Online-Shop Bestellungen aufgegeben hatten – aus dem Lager in den Wagen und dann zur Poststelle transportiert werden. Und wie es aussah, würde ich diese Arbeit im Alleingang verrichten müssen. Håkon schien das heutige Gespräch mit der Chefin nämlich ganz besonders zu genießen, und auch, dass es ihm die lästige Tätigkeit vom Hals hielt.
Ich hatte es satt, dass die Chefin Håkons Aufmerksamkeit an sich riss. Oder sollte ich besser sagen, dass sie sie mir entriss? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, sie wäre wild auf ihn. Aber ich wusste es besser! Denn sie war fünfundfünfzig Jahre alt und demzufolge stolze dreiundzwanzig Jahre älter als er. Ich wollte gewiss nicht engstirnig erscheinen, doch dieser recht stattliche Altersunterschied ließ sich ja nun mal nicht so einfach ignorieren.
Da wäre ich schon viel mehr für ihn geeignet. Uns trennten nur drei Jahre, waren uns demzufolge ebenbürtig auf jeder erdenklichen Weise. Aber auch optisch durfte ich einiges mehr auf seiner Linie liegen. Zwar machte ich nicht viel her, da ich eher der naturbelassene, unscheinbare Typ war, doch wenigstens war meine Haut noch straff und mein Gesicht unbehandelt. Zudem waren meine Bewegungen fließend, schmerzfrei und verursachten keinerlei Knirschen oder Krachen. Im Bett machte sich das sicherlich bezahlt, also, für den Mann, denn ich war richtig gelenkig. Na gut, der jahrzehntelange Ballettunterricht begünstigte das beträchtlich. Darum zählte ich, was das anging, wohl nicht gerade zu dem Durchschnitt. Aber es konnte ja nicht schaden, das einmal einfließen zu lassen. Andererseits würde Frau Hæreid das ganz bestimmt mit Erfahrung wettmachen. Und was war wohl wertvoller als Erfahrung? Es war ganz gewiss nicht Gelenkigkeit.
Meine Gedanken machten mir Angst.
Doch es gab einen legitimen Grund, der solcherart Gedanken zuließ: Ich mochte Håkon. Sehr. Ich würde nicht sagen, dass ich heillos in ihn verliebt war, aber wenn er jeden Montag und jeden Mittwoch und jeden Freitag den Laden betrat, schlug mir das Herz bis zum Hals. Wir waren mehr als Arbeitskollegen. Stets opferte er eine Viertelstunde seiner kostbaren Zeit für mich – besser gesagt, für einen Kaffee und ein Schwätzchen mit mir –, und das, obwohl er fortwährend einen strengen Zeitplan hatte und schrecklich in Eile war. Seit dem ersten Tag an hatte die Chemie zwischen uns gestimmt. Er hatte sich zu mir an den Verkaufstresen gesetzt, nach einem Kaffee gefragt und sich nicht eine Sekunde gescheut, meine neugierigen Fragen zu beantworten.
Während ich gegenwärtig die Ware hineinbrachte und verräumte, ließ ich unser allererstes Gespräch Revue passieren:
»Woher kommst du, Håkon Ertsås?«
»Aus Trondheim, so wie du, Linnéa Lysefjord.«
»Ich bin dir hier noch nie begegnet.«
»Trondheim ist die drittgrößte Stadt Norwegens und mit rund hundertneunzigtausend Einwohnern nicht gerade das, was man überschaubar nennt. Und du hast allesamt auf dem Schirm? Mit Namen? Macken? Und allem anderen Schnick und Schnack?«
»Selbstverständlich nicht! Aber woher kommt dann dieser Akzent?«
»Ich habe einen Akzent?«
»Ja, unterschwellig.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du willst mir ernsthaft weismachen, dass du dir über deinen Akzent nicht im Klaren bist?«
»Ähm, hilf mir bitte auf die Sprünge.«
»Nun, er klingt irgendwie amerikanisch.«
»Oh! Aha! Verstehe!«
»Und?«
»Und, was? Ich bin kein Amerikaner. Ich bin ein waschechter Norweger.«
»Aber wieso dann dieser Akzent?«
»Offenbar habe ich den Akzent in den zehn Jahren meines Aufenthalts in Pensacola unbewusst angenommen.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein, wieso? Pensacola ist eine Stadt in Florida. Und Florida ist ein Bundesstaat der Vereinigten Staaten.«
»Zwar war ich zu Schulzeiten keine Rakete in Geographie, aber das ist mir auch ohne deine Unterrichtung bestens bekannt.«
»Na schön, wo liegt dann das Problem?«
»Dass du eben noch von keinem Akzent wissen wolltest.«
»Das war, bevor du mir erklärt hast, dass er amerikanisch klingt.«
»Du hast zehn Jahre deines Lebens in den Staaten gelebt! Von welchem Akzent hätte deines Erachtens nach die Rede sein sollen?«
»Ich weiß nicht, von einem spanischen?«
»Phü!«
»Ungelogen, davor habe ich anderthalb Jahre in Bilbao gelebt. – Im Übrigen eine überraschend kosmopolitische Stadt, die man unbedingt bereist haben muss.«
»Wow!«
»Ja, wow!«
»Aber zurück nach Pensacola. Was hat dich dazu bewogen, dorthin auszuwandern?«
»Das Bombenwetter, das sich über das gesamte Jahr zieht.«
»Dir gefällt die Kälte Norwegens nicht?«
»Im Winter beziehungsweise zur Weihnachtszeit gefällt sie mir sehr wohl. Aber hier in Trondheim wird es selbst in den Sommermonaten nicht richtig heiß. Ich meine, in Pensacola ist es im Winter so kalt, wie es in Trondheim im Sommer warm ist. Vor Pensacola hatte ich noch nie einen schweren Sonnenbrand. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ich versuche es. – Und sonst so?«
»Bitte?«
»Na, Bombenwetter herrscht über das gesamte Jahr auch auf Zypern und in Madagaskar und in Kuba und sogar in Marseille. Warum fiel die Wahl ausgerechnet auf Pensacola?«
»Du bist ganz schön auf Zack! Dir kann man nichts vormachen, was?«
»Versuch ja nicht abzulenken!«
»In Ordnung. Meine Wahl fiel ausgerechnet auf Pensacola wegen einer Frau.«
»Wegen einer Frau, sieh mal einer an. Wie lernt man eine Frau kennen, die so weit von einem entfernt lebt?«
»Durch das Internet. Eher durch Zufall. Ich bin nicht in einer dieser Singlebörsen angemeldet, falls du das denkst.«