Und last but not least war da unser Nesthäkchen namens Yva. Sie war süße zwanzig Jahre alt und quasi ein Verkehrsunfall. Ursprünglich war kein weiteres Kind mehr geplant gewesen, denn mit Fredriks Geburt war Mamis und Papis gewünschte Anzahl von Kindern erreicht worden. Nichtsdestotrotz war Yva als Siebentgeborene ein absolutes Wunschkind, auf das wir uns alle unendlich gefreut hatten. Nur gelegentlich kostete sie uns Nerven – früher noch mehr als heute –, denn sie war fürchterlich verhätschelt worden. Für mich war sie ein universelles Naturgesetz, denn mit Nesthäkchen war es immer dasselbe. Auch sie wohnte im Übrigen noch daheim und brütete ausgiebig über ihre Zukunftspläne. Sie wollte auf gar keinen Fall den gleichen Fehler machen wie Fredrik und Zeit mit einer Ausbildung verplempern. Sie wollte sich sofort in ein Studium stürzen, vorzugsweise ein Auslandsstudium in Australien. Bewusst oder unbewusst eiferte sie Fredrik nach, nur höher, schneller, weiter und unbedingt besser. Nun ja, als Jüngste war sie klar im Vorteil, da sie von uns lernen konnte, vor allem aus unseren Fehlern.
Nun waren es nur noch vierzehn Tage bis Heiligabend und wir steckten mitten in den Vorbereitungen. Mit Wir waren meine Eltern, Yva und meine Wenigkeit gemeint. Hin und wieder, wenn es die Zeit zuließ, beehrten uns auch Åse und Synni, noch seltener Toini, um uns ein wenig unter die Arme zu greifen. Doch meistens waren wir auf uns allein gestellt.
Die Vorbereitungen bestanden im Augenblick zumeist aus Putzen und kleineren Reparaturen. Wenigstens würden der Staub in irgendeiner Ritze, ein wackelnder Stuhl, schief hängende Bilderrahmen, eine durchgeknallte Glühbirne, der verstopfte Abfluss des Waschbeckens in der Gästetoilette, drei verdorrte Zimmerpflanzen und ein unebener Weg zum Haus nicht für Klagen oder gar für gebrochene Glieder sorgen. Alles sollte möglichst perfekt werden, so wie jedes Jahr. Doch dafür musste jedes noch so kleine Detail bedacht werden.
»Wo sind Sie schon wieder mit Ihren Gedanken, Fräulein Lysefjord?« Meine Chefin riss mich aus meiner Trance und deutete mit dem linken Zeigefinger durch das große opulent dekorierte Fenster hinaus auf den Lieferanten, der just mit seinem Kleintransporter auf die Einfahrt fuhr.
»Ojemine, verzeihen Sie, Frau Hæreid. Natürlich kümmere ich mich sofort um die Lieferung.« Und um den Lieferanten, sagte ich zu mir und grinste vorwitzig in mich hinein.
Sie nickte zufrieden. »Ganz recht.«
Mit schnellen Schritten ging ich hinaus zu ihm, den Weg entlang, den ich gleich in der Früh, noch ehe der Rest der Erdbevölkerung aus dem Tiefschlaf erwacht war, in tiefster Dunkelheit mit einer äußerst vorsintflutlichen Schaufel vom Neuschnee befreit hatte, der in der letzten Nacht in rauen Mengen gefallen war. Diese Arbeit hatte mir viel Kraft abverlangt, weshalb ich mich mit reichlich Kaffee wieder reaktivieren musste, ehe ich in der Lage war, die Pforten des Ladens zu öffnen. Kaffee war mein Treibstoff, um den langen arbeitsreichen Tagen standhalten zu können.
Schon beim Entgegenkommen streckte ich ihm meine Rechte zur Begrüßung entgegen, dabei stieg Håkon gerade erst aus dem Wagen. Er war ein Gemütsmensch und strotzte vor Gelassenheit. Er ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Das gefiel mir besonders an ihm, nicht zuletzt, weil ich selbst kaum zu erschüttern war. Obwohl meine krumme Haltung und mein Volkstanz, den ich im Augenblick aufführte, um warm zu bleiben, nicht darauf schließen ließen. Hier draußen herrschten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt – minus fünf Grad, um genau zu sein – und ohne meinen dicken Mantel, meine Pudelmütze, meinen Riesenschal und meine Fäustlinge froren sämtliche Körperteile sofort steif.
»Immer die gleiche Komödie mit dir«, lachte er. »Montags, mittwochs und freitags. Lernst du auch mal aus deinen Fehlern, Zuckerpuppe?« Endlich ergriff er meine Hand, die er heute länger nicht wieder hergab. Nicht aus romantischem Anlass, was er nun auch wenig schmeichelhaft quittierte: »Es wundert mich gar nicht, dass du sofort Erfrierungen dritten Grades erleidest. Du hast überhaupt gar kein Fleisch auf den Knochen.« Er hielt meine Hand in die Höhe wie eine saftige Gänsekeule, die ein Marktschreier mit viel Gebrüll unter die Leute zu bringen versuchte. »Sieh dir nur dieses dürre Gerät an, das du Hand nennst.« Er schüttelte sie fleißig durch. »Du holst dir vor Heiligabend noch was Schweres weg, wenn du nicht ein wenig mehr Acht auf dich gibst und nicht aufhörst, hier draußen halb nackt herumzulaufen.«
Ich sah an mir herunter. »Halb nackt, hm?« Immerhin trug ich einen langen, recht dicken schwarzen Strickpullover mit hohem Kragen, Norweger Thermo Leggings und gefütterte Boots. Wenn er das für halb nackt hielt, wollte ich im Sommer besser nicht mit ihm an den Strand gehen. »Seit die offizielle Weihnachtszeit eingeläutet worden ist, hält sich unsere Chefin mehr im Laden auf, als ein Mensch ertragen kann.«
Håkon schlenderte hinter den Wagen, öffnete die Flügeltüren weit zu den Seiten und begann, die Kisten und Kartons mit der neuen Ware für den Transport in den Laden bereit zu stellen, während er meinen Worten hoch konzentriert folgte.
»Ich kann nicht klar denken, wenn man mir auf die Finger guckt, weißt du? Das macht mich total kirre. In ihrer Gegenwart vergesse ich einfach alles. Manchmal sogar, wie ich heiße, ist denn das zu fassen?«
Er wandte sich mir zu und sein Blick ruhte eine kurze Weile auf mir. »Deine Lippen sind schon erschreckend blau angelaufen.«
Ich befeuchtete sie mit meiner Zunge, als könnte das irgendetwas daran ändern. Doch im Prinzip wühlte mich ja nur die Tatsache auf, dass er meine Lippen in Kenntnis genommen hatte. Denn wenn ein Mann das tat, war das für meine Begriffe ein Zeichen dafür, dass seine Gefühle für die Frau in die Tiefe gingen. Es war nicht dasselbe, wie den Busen oder den Hintern einer Frau anzustarren. Zwar gingen seine Gefühle in diesem Zusammenhang ebenfalls in die Tiefe, jedoch bezog sich das vielmehr auf das untere Areal seines Körpers, statt auf sein Herz.
»Und inwiefern steht das im Verhältnis zu dem, worüber ich gerade gesprochen habe?« Mir schien, als wäre er doch nicht so konzentriert gewesen wie zuvor angenommen.
Er widmete sich wieder den Kisten und Kartons, nahm eine heraus, drückte sie mir in die Hände, nahm ebenfalls eine und deutete mit dem Kopf auf den Laden, um mich zum Gehen zu motivieren. Erst dann antwortete er: »Insofern, dass deine Lippen das sichtbare Zeugnis dafür sind, wie schrecklich kirre dich die Anwesenheit der Chefin macht.«
Ich verstand. Denn wäre sie nicht anwesend, hätte ich auch nicht vergessen, meinen Mantel überzuziehen und würde nun keine Erfrierungen dritten Grades erleiden.
Ich war so dumm! So dumm, so dumm, so dumm! Keine besonders attraktive Eigenschaft.
Punkte sammeln! Konnte ich! Nicht!
»Du denkst um tausend Ecken. Da soll noch einer mitkommen«, schob ich lieber jede Schuld auf ihn ab und ließ mir nicht anmerken, wie dumm ich mir also vorkam. Das wäre nämlich bedeutend unattraktiver gewesen.
»Herr Ertsås, es ist mir wie immer eine große Freude, Sie zu sehen«, kam die Chefin uns über beide Backen strahlend entgegen. »Sie wissen ja, wohin mit dem ganzen Kram.«
»Natürlich, Frau Hæreid.« Er watschelte sofort ins Lager.
Und ich watschelte ihm hinterher wie ein treudoofes Entenbaby hinter seiner fürsorglichen Entenmutter.
Als wir in den Laden zurückkehrten, hinderte Frau Hæreid den Lieferanten daran, den Laden zu verlassen, indem sie ihn in ein Gespräch verwickelte. »Ihre Nerven müssen ja ganz blankliegen. Bei dem Verkehrschaos da draußen!«
»Rührend, dass Sie sich sorgen. Aber das müssen Sie nicht. Die Führer der Schneefräsen und -pflüge machen ihre Arbeit hervorragend. Inzwischen sind die Straßen und Wege so gut wie geräumt und man kommt ungehindert durch.«
»Es freut mich sehr, das zu hören. Heute Morgen sah das nämlich noch ganz anders aus. Ich habe den Laden erst eine halbe Stunde später als geplant erreicht. Zum Glück bin ich die Chefin, sonst hätte ich mir eine Menge Ärger eingehandelt«, wieherte sie. In Angelegenheiten wie Pünktlichkeit und Verantwortung war sie streng und wusste, dass sie eine ihrer Angestellten zur Schnecke gemacht hätte, wenn es ihr so ergangen wäre wie der Chefin. Sie hätte keine Ausrede gelten lassen. Nicht eine einzige! Schließlich hätten wir früher aufstehen und losfahren oder einen