»Mensch Mama, wir haben immer verhütet. Doppelt und dreifach. Oder meinst du, Luisa und ich hätten mit fünfzehn nichts Besseres zu tun gehabt, als Kinder zu hüten? Wir sind doch praktisch selbst noch Kinder gewesen.«
Luisa. Der Klang ihres Namens war so unfassbar feminin und von Optimismus erfüllt, dass er mir jeden verflixten Tag ein glückliches Gesicht beschert hatte. Ich hatte mir nicht einmal einen Kosenamen für sie ausgedacht, denn ich hatte viel zu viel Gefallen daran, ihren richtigen Namen auszusprechen.
»Nun, der Jugend von heute ist einfach nicht zu trauen.«
»Folglich zweifelst du an deinen eigenen Erziehungsmaßnahmen?«, zog ich sie auf und lachte.
Sie grinste nur.
Ich wusste genau, was das hieß. Sie ärgerte sich darüber, dass es inzwischen schwieriger geworden war, gegen mich anzukommen. Ich war redegewandt und alles andere als geistig beschränkt. Aber ich wusste auch, dass sie genau das an mir mochte, hauptsächlich, weil ich ganz nach ihr geraten war.
Ich ging zu ihr an die moderne Kochinsel, legte meinen Arm locker um ihre Schulter und guckte ihr beim Schneiden der Möhren zu. Ich überragte sie um Kopflänge, so war es ein Leichtes, ihr einen Kuss auf ihr dünnes angegrautes Oberhaar zu drücken. »Du hast deine Sache gut gemacht, so oder so, Mama.«
Mit hochgezogener Augenbraue sah sie zu mir auf. »Sag mal, könntest du bitte aufhören, ständig Mama zu sagen? Da bekommt man ja Ohrensausen.«
Ich lachte: »Dein Wille geschehe, Annegret«, zuckte ich mit den Achseln, stibitzte ein Stück Möhre, das ich fix verdrückte, bevor sie es mir aus der Hand schlagen konnte, und verließ die Küche.
»Du weißt ganz genau, wie ich das gemeint habe«, rief sie mir hinterher.
So verliefen Unterhaltungen zwischen meinen Eltern und mir in der Regel immer. Ein wenig von allem – Witz, Charme, Spaß, Ernst, Ärger, Strenge. Die gute Mischung sorgte dafür, dass uns nie langweilig wurde und es zu keinen großen Dramen kam, sogar dann nicht, wenn es angebracht wäre. Daher ließ es sich auch hervorragend mit ihnen aushalten. Auch jetzt noch, wo ich eben volljährig war. Aber was nützte mir meine Volljährigkeit, wenn ich noch die Schulbank drückte?
Natürlich ging der Umzug in das Kuhkaff auch mit einem Schulwechsel einher. Und das für ein einziges Jahr. Leuchtete somit ein, dass meine Stimmung im Keller war. Ich hasste es, aus meinen Gewohnheiten herausgerissen zu werden. Ich hatte nichts gegen Veränderungen. Aber ich wollte dafür bereit sein und nicht so arglistig überrumpelt werden, wie mit dem Umzug. Plötzlich hatte es geheißen: »Junge, wir haben ein Haus gekauft.«
Schon klar, in einem fortgeschrittenen Alter, in dem sich auch meine Eltern mittlerweile befanden, träumte man von einem Haus im stillen Grünen, fern von allem Rummel. Aber hätten sie mit dem Kauf des Hauses nicht wenigstens warten können, bis ich finanziell auf eigenen Beinen stand und allein überlebensfähig war? Stattdessen bekam ich auf den letzten Metern noch einmal zu spüren, wie viel mich die Abhängigkeit kostete – wie viel ich von mir selbst aufgeben musste.
Mein einziger Lichtblick war mein langjähriger Kumpel Niko. Er war ebenfalls achtzehn. Allerdings hatte er diese Prozedur schon einige Jahre vor mir über sich ergehen lassen müssen. Seine Eltern und meine Eltern waren best buddies. Es war also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich meine Eltern von ihnen überzeugen ließen, sich ausgerechnet hier niederzulassen. Aber Niko versicherte mir auf Ehre und Gewissen, dass es sich hier gar nicht so übel lebte. Angeblich gewöhne man sich daran und würde es über kurz oder lang gar nicht mehr anders haben wollen.
Tja, da konnte ich nichts mehr tun, als mich überraschen zu lassen.
Am nächsten Morgen kostete mich der Gang zur Schule große Überwindung. Niko an meiner Seite sorgte dafür, dass ich nicht kniff und wieder nach Hause ging, um mich unter meine Bettdecke zu verkriechen. Natürlich musste ich nicht beruhigt werden – ich war ja nicht nervös. Ich war nur frustriert und demotiviert, hatte auf diese Art Veränderung einfach keine Lust.
Wenigstens war das Wetter auf meiner Seite. Die Morgensonne legte sich über die Bereiche meiner Haut, die nicht von meinen Klamotten bedeckt waren. Immer wieder hob ich mein Gesicht an und hielt es dem wärmenden Schein entgegen. Dabei schloss ich genussvoll die Augen, nur so lange, wie ich meiner Vorausschau auf den vor mir liegenden Weg blind vertrauen konnte, und inhalierte die Luft tief.
Ich liebte den Duft des Morgens, besonders im Sommer, wenn die Sonnenstrahlen den Boden unseres Planeten berührte und den Asphalt erwärmten. Aber eines fiel mir auf: Hier auf dem Dorf, umgeben von reichlich Natur und in der Nähe von Wasser, war die Luft klarer und gesünder. Nichtsdestotrotz lag etwas darin, was mich in meine Kindheit zurückversetzte. In Mamas Arme. Es erinnerte mich schmerzlich an ein Zuhause, das ich wohl nie wieder so erleben würde, wie ich es als Kind erlebt hatte. Es war nicht deshalb schmerzlich, weil sich an meinem Leben so drastisch viel verändert hatte (bis auf den jetzigen Umzug), sondern weil mir die Fähigkeit, die Welt durch Kinderaugen zu sehen, abhanden gekommen war.
Ich war nicht wie viele Kinder gewesen, wollte eigentlich nie erwachsen werden – jedenfalls nicht unbedingt –, weil ich eine schöne Kindheit gehabt hatte. Ich habe nicht so sehr an Unabhängigkeit gedacht wie heute, weil es keine Rolle gespielt hatte. Ich war nur ein Kind. Mein Tag bestand in erster Linie aus Spaß und Abenteuern. Lästigen Pflichten wie Hausaufgaben für die Schule oder ein paar Hilfsarbeiten im Haushalt brachte ich einfach schleunigst hinter mich. Erst als mir im Alter von dreizehn oder vierzehn bewusst geworden war, welche Möglichkeiten mir offen standen, sobald ich auf mich selbst gestellt wäre, ließ den Wunsch in mir entstehen, dem Jungendalter endlich zu entwachsen.
Niko, der mir die zwanzigminütige Strecke zur Schule von seinem zweiwöchigen Ägypten-Urlaub mit seinen Eltern berichtete, riss mich lautstark aus meinen Gedanken: »Na, du bist mir ja ein toller Kollege!«
»Was, wie, wo?«
»Ich habe dir eine Frage gestellt. Aber wie ich sehe, bist du völlig geistesabwesend. Hast du überhaupt irgendetwas von dem, was ich gerade erzählt habe, mitgekriegt?«
»Na, du warst in Ägypten.«
»Super, dann bist du ja vollumfänglich aufgeklärt!«
»Ich stehe einfach neben mir.« Das war eine lahme Ausrede, das wusste ich selbst. Niko war einer meiner besten Kumpels, also sollte mich interessieren, was er von sich gab, und wäre es auch der größte Stuss.
»Alter, komm mal klar«, stauchte er mich zusammen, »es ist ja nicht so, als wärt ihr nach Australien ausgewandert.«
»Ist ja gut, hast ja recht.« Ich fügte mich meinem Schicksal. Musste ich, denn wir hatten soeben die Schule erreicht.
»Sieht kleinbürgerlich aus«, kommentierte ich oberschlau. Der Schulhof war gut zu überblicken. Das Schulgebäude bestand hauptsächlich aus roten Ziegelsteinen und war insgesamt gar nicht so klein, wie ich es erwartet hatte.
»Nun, so, wie der Rest des Dorfes.« Niko hob die Hand zum Gruß, als ihm drei seiner wichtigsten Freunde entgegenkamen. »Das ist Cedric. Ich habe euch ja von ihm erzählt.«
Jeder von ihnen hieß mich mit einem offenen Lächeln und einem »Na!« willkommen.
Dominic war ein lustiger Typ. Das sah man ihm schon auf den ersten Blick an. Er war ein abgebrochener Meter, aber das hielt ihn nicht davon ab, selbstsicher aufzutreten. Er sah sportlich aus. Das Fitnessstudio verhalf ihm ganz offenbar zu dieser Selbstsicherheit.
Steve war auf meiner Höhe und wirkte eher ruhig und ausgeglichen. Er kaute Kaugummi und starrte die meiste Zeit