Gleich darauf schwank er thematisch auf seine aktuellen Jobfrustrationen um. Nebenbei drückte er mir mit den Worten „Hab' ich dir mitgebracht“ eine Tüte aus einer örtlichen Apotheke in die Hand. Darin enthalten: Ein Fläschchen Nasentropfen und eine Nasensalbe. Auf Grund der trockenen Heizungsluft hatte ich nämlich bereits nach vier Tagen Aufenthalt Nasenbluten bekommen. Samt einer ziemlich verkrusteten Nase. Es war ihm aufgefallen, obwohl ich es unerwähnt ließ und eine dezent getönte Tagescreme trug. Damit nicht genug, standen und stehen neben meiner Schlafcouch jeden Tag nicht mehr eine, sondern drei Literflaschen Mineralwasser, die ich – ebenfalls wegen der trockenen Heizungsluft – ohne Mühe täglich austrinke. Auch diese Wasserflaschen hat Valtteri aus eigenem Antrieb zur festen Gewohnheit werden lassen. Ohne dass ich etwas erwähnt hätte.
Auf Außenstehende wirkt Valtteri vielleicht ein wenig verschroben, mitunter auch impulsiv, Künstler, der er ist, – doch er ist so aufmerksam, empathisch und hat eine solche Sensibilität, dass es mir immer schlüssiger wird, weshalb er nicht einfach über diversen Ärgernissen, Frustrationen und Widersinnigkeiten stehen kann. Die Intensität, mit welcher er seine Umwelt, das Verhalten seiner Mitmenschen, die Klänge der Natur, Töne der Musik, Harmonien oder Disharmonien von Farben, Formen, Entwicklungen, Worten, Taten oder Gegebenheiten wahrnimmt und erlebt, kommt der meinen ganz schön nahe. Nichtsdestoweniger wirkt es sich bei mir anders als bei ihm aus. Zugegeben, darüber bin ich froh. Es ist bestimmt nicht nicht immer leicht für ihn.
Seine Treffen mit Anneline sind mittlerweile zu einer festen Donnerstag-Abend-Einrichtung geworden. Ich darf während dieser Zeit die Sauna im Keller des Hauses nutzen. Der Vorraum zur Sauna stellt eine eher pragmatische Kombination aus Umkleidekabine und Duschgelegenheit dar. Deckenhoch gefliest. Die Sauna allerdings wurde liebevoller eingerichtet. Sie hat einen wunderschönen kleinen Kamin samt Steinofen für Aufgüsse. Auch wenn dieser Wohnblock zu den eher preisgünstigen zählt und mit weitaus weniger gutem Inventar und Charme als eines der bunten Holzhäuser ausgestattet ist, – mit der Sauna haben sie sich Mühe gegeben. Darin steckt so viel Erfahrungswert und Detailarbeit, dass es einfach unübersehbar ist.
O-Ton Valtteri hierzu: „Sonst wären sie die Dinger nicht losgeworden.“
So, wie es in Deutschland die berühmt-berüchtigte Flurwoche gibt, so hängt im Hausflur dieses finnischen Wohnblockes ein Plan für die Nutzung der Sauna. Jede Wohnpartei, es sind sechs an der Zahl, kann sich einen Tag pro Woche per Namenseintrag reservieren. Valtteri hat mir seinen Tag – den Donnerstag – für die Zeit, während der ich bei ihm zu Besuch bin, abgetreten. Stattdessen geht er nun einmal pro Woche mit einem Nachbarn aus dem oberen Stockwerk saunieren. Dieser ist ein redseliger rüstiger Senior und etwas traurig darüber, dass seine Frau währenddessen zur Zeit lieber die Quizshow im Fernsehen anschaut. Also sitzen die beiden Herren regelmäßig jeden Mittwoch in der Kellersauna, schwitzen und unterhalten sich. Über den Stellenabbau der Arbeitgeber in Finnland, die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Missstände, über kostengünstiges Angelzubehör, die neuesten Meldungen der Tagespresse und dergleichen mehr. Auf meine Nachfrage, ob es denn nicht üblich sei, sich in einer Sauna wenig bis gar nicht und wenn, dann nur flüsternd zu unterhalten, antwortete Valtteri mir vielsagend: „Je nachdem, wer in der Sauna sitzt. Aber zum Hochsommer wird die Quizshow wieder abgesetzt.“
*
Immerhin, inzwischen ist es Mitte Februar.
Die Sonne lässt sich ab und zu blicken, wenn auch noch sehr zaghaft. Heute grüßt sie vorsichtig gegen zehn Uhr Vormittags mit ein paar ersten Strahlen. Im Laufe des Tages macht sie aus minus 27 Grad Celsius annähernd warme minus 21 Grad Celsius. Zumindest bis zum frühen Nachmittag. Dann wird es wieder dunkel. Und somit auch etwas kälter.
Während der wenigen Stunden, in denen die Sonne vom Himmel scheint, reflektiert der Schnee hell das Licht. Ich kneife die Augen zusammen. Blinzele. Unwillkürlich fühle ich mich an die Inuit erinnert.
Ich wandere. Wieder einmal.
Endlich wird alles mehr und mehr sichtbar. Auch wenn es draußen noch immer kalt ist, auch wenn ich nach mehreren Stunden des Wanderns anschließend müde sein werde, – ich möchte einfach keine Minute meines wundervoll verlängerten Finnlandaufenthaltes versäumen. Jetzt, da ich ohne Taschenlampe meine Umgebung erkunden kann, zieht es mich umso mehr hinaus. Sobald die Sonne den Tag erhellt, schlüpfe ich in Stiefel und Spikes. Erst nachdem sie sich gegen frühen Nachmittag wieder zurück zieht, kehre ich in Valtteris Wohnung zurück.
Mit meiner Sehnsucht nach Tageslicht und einer unbändigen Lust, mich in das Freie zu begeben, bin ich nicht alleine. Kaum ist das erste Licht des Tages zu erahnen, treffen die Menschen einander an allen nur erdenklichen Orten, um Frisbee zu spielen. In den Einfahrten der Häuser, mitten im Wald, auf Spielplätzen oder leeren Teilabschnitten der Supermarktparkplätze, vor der einen oder anderen Sauna und natürlich an den Ufern der zahlreichen Järvis. Dick eingemummelt in Daunenjacke und festem Schuhwerk finden sich Finnen jeder Altersstufe in kleinen Gruppen zusammen und werfen abwechselnd ihre Frisbeescheiben. Kaum einen Passanten stört es. Im Gegenteil. Ein kurzes routiniertes Kopfeinziehen oder ein reflexartiges Ducken des eigenen Körpers ist das gewohnte Verhalten der Einheimischen. Äußerst selten wird der Wurf einer Frisbeescheibe überhaupt einmal kommentiert. Und wenn, dann allenfalls, um dem Frisbeewerfer ein anerkennendes Lob oder einen Rat zur Verbesserung seiner Technik zukommen zu lassen.
Wer nicht Frisbee spielt, ist im Kindergarten, in der Schule oder auf der Arbeit. Oder er angelt. Stundenlang. Loch in das Eis bohren, Angel fixieren, hinsetzen und die Sonne genießen. Fertig ist der finnische Frühlingstag. Denn hier, so erklärte Valtteri mir, ist es sowohl im Denken und Empfinden als auch in der Gestaltung des Alltages Frühling, sobald die monatelange konstante Winterdunkelheit von einem Hauch Licht durchbrochen wird. Wen juckt schon das bisschen Eis und Schnee? Oder gar diese mickrigen Restminusgrade? Hinaus, hinaus! Es ist Frühling!
Valtteri schmunzelte versonnen, als er mir dies erläuterte. In Gedanken schon bei seiner großen Skulptur in seinem Mökki, erzählte er mir von den unbeschreiblich schönen finnischen Sommertagen. Von seinen Ausflügen an die Järvis, Einladungen zu Grill-Treffen, von seinen Ruderbootfahrten zwischen den Schären, von endlosen Wanderungen durch die finnischen Wälder, erholsamen Saunaabenden, farbenprächtigen Sonnenauf- und ‑untergängen, Jazzfestivals, finnischem Sommerhonig, belebten Straßencafés, Akkordeonspielern und Freilufttänzen, gemeinsamen Touren mit einem befreundeten Hunde- und Pferdebesitzer und nicht zuletzt auch von Mückenplagen nebst wirksamen Anti-Moskito-Tipps. Gemäß seiner Erfahrung von der Wirksamkeit der Produkte überzeugt, empfahl er mir eine Hautlotion aus Helsinki namens „Free, Hajuton hyttyskarkote“, Räucherkegel diverser Größe oder auch das allseits beliebte Waschen und Eincremen von Haut und Haaren mit finnischen Produkten aus finnischem Kiefernteer. Tervashampoo, Tervaseife, und Tervahautcreme gehören zu Valtteris fester Sommergrundausstattung.
Ich saß da, hörte zu und staunte. Als Valtteri nach einigen Minuten des Erzählens wieder etwas schweigsamer wurde, erkundigte ich mich interessiert, wann es denn nach finnischer Definition Sommer sei. Angesichts dessen, dass die aktuelle Wetterlage bereits als Frühling galt.
„Sommer...“, so antwortete er mir aus tiefster Kehle seufzend. „Sommer ist dann, wenn das Wasser der Seen schon zehn oder zwölf Grad warm ist und man herrlich darin schwimmen kann. Sommer ist, wenn die Boote morgens bei fest geschlossenen Knospen, Blättern und Sprösslingen hinaus fahren und am Abend desselben Tages bei geöffneten Blütenkelchen und entfalteten Blättern wieder anlegen. Dann ist Sommer.“
*
Der Schnee knirscht unter meinen Spikes. Nachdem ich der Syväraumankatu ein Stück gefolgt bin und eine Brücke überquert habe, erblicke ich einen Kiosk. Leider ist er geschlossen. Schade. Eine Wegzehrung auf die Hand wäre jetzt schön gewesen.
Hinter dem Kiosk beginnt eine Straße, die Suvitie. Kurzentschlossen folge ich ihrem Verlauf. Nach wenigen Minuten gelange ich an einen angenehm