Als ich näher komme, sehe ich ein Schild an der Außenwand des Hauses. Direkt neben der Eingangstür. Auf jenem Schild steht der selbe Text wie auf dem Schild am Aussichtsturm. Die beiden Gebäude müssen irgendwelche Gemeinsamkeiten haben. Noch eine Sache, zu der ich Valtteri nachher mal befragen werde. Vielleicht kann er mir mehr darüber sagen.
Jetzt spaziere ich erst einmal weiter, genieße die Sonne, die Bäume, die knackenden tauenden Eiszapfen, denen ich gelegentlich ausweichen muss, und den schmelzenden Schnee, aus dem ganz langsam Felsen und – es ist kaum zu fassen – Sitzbänke hervor schauen und sichtbar werden.
Nach nicht allzu langer Zeit, gelange ich an ein Freibad. Ganze fünf Sprungbretter sind zu zählen. Der Einer ist lediglich durch das vereiste Metallgestänge zu erkennen. Der Rest ist noch unter Schnee vergraben. Ebenso die quadratischen Sprungblöcke am Beckenrand. Sie heben sich nur durch die regelmäßigen Abstände und die eckige Form aus der Schneemasse hervor.
Im Sommer ist das Freibad bestimmt ein belebter Ort. Vielleicht werden hier auch Wettkämpfe ausgetragen. Zur Zeit ruht es jedenfalls. Also weiter.
Nach dem Freibad kommt lange Zeit nur Landschaft. Wunderschöne Landschaft. Weite Strecken flachen Ufers, kleine Waldstücke, endlose Sicht auf das tauende Eis des Meerwassers. Noch immer sind Meer und Land von Eis undSchnee überzogen. Streckenweise tauend, glitzernd, rissig oder wässrig und mal auch unverändert festgefroren. Je nachdem, ob das Licht und die Wärme der Sonne die jeweilige Stelle schon erreicht hat oder noch nicht.
Ab und an sitzt ein Angler am Ufer. Das entsprechende Loch im Eis ist kaum je größer als die Untertasse eines Kaffeeservices. Nie wirken die Angler einsam, frustriert oder ungeduldig. In der Regel sind sie eher ausgeglichen, voller Gelassenheit. Unterhalten wollen sie sich selten. Fünf Sätze pro Stunde reichen. Egal, in welcher Sprache.
Aber hin und wieder darf ich mich dazu setzen. Zumindest so lange ich die Fische nicht vertreibe, keine Geschwätzigkeit an den Tag lege und es mir vollauf genügt, schweigend im Sonnenlicht sitzend auf das Meer zu starren.
Nie muss ich hungern oder dursten. Jeder der Angler, zu denen ich mich setze, bietet mir von seinen mitgebrachten Getränken oder Speisen an.
Einmal begegne ich sogar einer Anglerin. Sie kann neben ihrer Muttersprache – Finnisch – auch ein wenig Schwedisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Diese Finnin zeigt sich etwas gesprächiger als ihre männlichen Anglerkollegen. Sie freut sich aufrichtig, mich kennenzulernen und erzählt mir beiläufig von ihrer Hoffnung, ihr Mittagessen mit einem großen Fisch aufstocken zu können. Zwar seien sie und ihr Mann berufstätig – sie selbst arbeite in einer kleinen Buchhandlung, die auf Grund von Reparaturen für drei Tage geschlossen sei, – aber der letzte Lebensmitteleinkauf im Prisma – ein großer Supermarkt nahe Vanha Rauma – sei so teuer gewesen.
„Wir sind zu viert. Mein Mann und ich haben zwei gemeinsame Kinder. Da geht so ein Lebensmitteleinkauf schnell zur Neige“, erklärt sie freimütig. „Deshalb nutze ich die freien Tage, um den Kühlschrank mit fangfrischem Fisch aufzufüllen.“
„Na dann mal Petri Heil.“
„Petri Heil?“
„Das ist so eine Redewendung aus Deutschland. Damitwünscht man einem Angler Glück und Erfolg.“
„Ach so? Danke.“
„Ist Ihnen denn nachher daheim jemand dabei behilflich, die gefangenen Fische verzehrbar zu machen?“, erkundige ich mich freundlich.
Nun guckt die Finnin mich arg verwundert, ja fast schon ein wenig beleidigt an.
Nach einer kurzen Pause erläutert sie mir betont höflich, dass sie so etwas durchaus könne und natürlich selber mache. Ebenso wie viele andere Finninnen und Finnen. Weit reichende Kenntnisse über das schnelle und leidlose Ableben, Entschuppen, Ausweiden und Zubereiten von Fischen, der zuverlässigen Sicherung von Feuerstellen unter freiem Himmel und auch das Wissen und die Fähigkeit, ungiftige Pilze von giftigen unterscheiden zu können, seien hier in Rauma keine Besonderheit oder Seltenheit, sondern vielmehr eine selbstverständliche Angelegenheit, an die man von Kindesbeinen an heran geführt werde.
Bei ihr sei es ihr Opa gewesen, der ihr all das beigebracht habe. Er habe sie regelmäßig mitgenommen. Gemeinsam seien sie im Ruderboot auf den See hinaus gefahren. Dort habe er ihr gezeigt, wie sie die Angel richtig auswerfe, und stundenlang mit ihr geflüstert. Märchenhafte Geschichten und lehrreiche Erzählungen aus dem wirklichen Leben wechselten einander ab, während ihr Großvater und sie darauf warteten, das die Fische bissen. Sie habe diese Stunden immer sehr genossen und als sie im zarten Alter von sechs Jahren einen selbst gefangenen Fisch endlich zum ersten Mal vollständig selber entschuppen, ausweiden, zubereiten und über der Feuerstelle braten durfte, war das für sie mindestens etwas so lang Ersehntes und Bedeutsames wie beispielsweise die Einschulung oder der Führerschein. Schließlich sei man ab dem ersten selber zubereiteten Fisch endlich ein Stück eigenständiger und lebensfähiger.
Auch hätte ihr Opa ihr selbstredend beigebracht, wie sie sich im Winter auf einem Fahrrad, dessen Reifen mit Spikes bestückt sind, gefahrlos und gleichmäßig auf Eis und Schnee fortbewege. Um Wegstrecken bewältigen zu können, ohne aufHilfe angewiesen zu sein.
„Das alles ist doch ein ganz selbstverständliches Stück Normalität. Geradezu banal“, sagt sie abschließend.
Stille. Verlegen starre ich auf die im Eisloch versenkte Angelschnur.
Die Finnin bemerkt es und bemüht sich, mir aus dieser Situation herauszuhelfen.
Weiterhin höflich erkundigt sie sich, wie die Kinder in Deutschland zur Zeit aufwachsen würden und ob sich seit der allseits bekannten Pisa-Studie schon etwas zum Vorteil verändert hätte.
Betreten murmele ich etwas von abgerundeten Bastelscheren, weit verbreiteten Diskussionen über die Frage, welche Bilder, Handlungen und welchen Sprachgebrauch man Heranwachsenden zumuten könne, ohne dass deren Körper, Geist oder Seele Schaden nehme oder gar die Möglichkeit einer Verrohung während der individuellen Persönlichkeitsentwicklung drohe, von Deutschlands speziellen Angelscheinlizenzen, von gekennzeichneten Grillplätzen, die manchmal nur nach vorheriger Anmeldung oder Entrichten eines Eintrittsgeldes genutzt werden dürfen und von kitschigen batteriebetriebenen Echtwachskerzen, die nicht einmal mehr eine Kerzenflamme haben.
Die Finnin macht große Augen. Nach einigen Minuten, in denen sie diese Fakten unkommentiert sacken lässt, bittet sie mich fortzufahren.
Daraufhin berichte ich ihr zusätzlich von dem ganz alltäglichen Parkplatzwahnsinn und den Autokolonnen vor Schulgebäuden. Ausgelöst durch Eltern, die ihre Sprösslinge bis vor die Eingangstür bringen. Sei es aus Prestige, ausgewachsener Bequemlichkeit oder um den Nachwuchs schützen zu wollen. Ich erzähle ihr auch von dem theoretischen Grundgedanken der Inklusion, dessen praktische Umsetzung noch in den Kinderschuhen steckt. Von Kommunen, deren Anliegen häufig in die Bürokratie oder Lippenbekenntnisse abgeschoben werden. Von Menschen im sozialen Abseits und der damit verbundenen Kettenreaktion.
Da sie danach noch immer aufmerksam zuhört, erzähle ich ihr noch von Kindern, die nicht mehr im Wald spielen wollen oder sollen, weil deren Eltern Aversionen vor Schmutz und Angst vor Bakterien oder Tieren haben. Auch erzähle ich ihr davon, das manche Kinder diese Aversionen und Ängste übernehmen. Von dem starken Kontrast des Leistungsdruckes, der parallel zu alledem vorhanden ist, und von den realen Anforderungen des Globalisierungszeitalters, die logischerweise ebenfalls vorhanden sind. Von Eltern, die lieber andere Leute verklagen, anstatt einzusehen, dass ihr Nachwuchs kein Leonardo Da Vinci ist. Und von noch anderen Erwachsenen, deren Denken und Verhalten manchmal so kritik- und konfliktunfähig ist, dass man bei dem Gedanken daran, was Heranwachsenden von solchen Menschen