„Wenn es nach mir ginge, würde ich das Weib vor die Tür setzen“, knurrte Dr. Kämmereit, als Marion den Raum verlassen hatte.
Der Kriminalrat sah sein Gegenüber nachdenklich an. Was war nur geworden aus ihrer Freundschaft von einst? Warum kam es in letzter Zeit immer häufiger zu Streitigkeiten zwischen ihnen? Und warum eskalierten sie immer dann, wenn es um die Kommissarin Zelenka ging? Er wusste, dass sein Freund Günter immense Probleme im Umgang mit ihr hatte. Aber das war schon immer so und verlief in den letzten Jahren trotzdem in einigermaßen erträglichen Bahnen.
Warum also hatte sich die Lage in den letzten Monaten so krass verschärft? - Dr. Sowetzko fand dafür nur eine logische Erklärung: Seit er dem Präsidenten Frau Zelenka als seine Nachfolgerin vorgeschlagen hatte, war die Atmosphäre wie vergiftet. Aufgefordert, sachliche Argumente gegen ihre Nominierung vorzubringen, zeigte der Freund dann seine wahren Absichten. Statt ihre Qualifikation anzuzweifeln, stellte er die Position insgesamt in Frage. Und darüber war der Kriminalrat geradezu schockiert; denn es wurde ihm immer klarer: Kämmereit wollte sich sein Arbeitsgebiet mit einverleiben.
Wie als Test sagte er nun zum aktuellen Thema: „Unterstütze mich darin, dass sie meine Nachfolge antreten kann, - gern vorzeitig, meinetwegen schon übermorgen. Dann ist sie automatisch von der aktiven Arbeit im Fall Bruno befreit.“
„Wie soll ich das verstehen?! Etwa als Nötigung?!“, begehrte Dr. Kämmereit auf. „Ich frage mich schon seit langem, was dir diese Frau tatsächlich bedeutet!“
„Ja“, antwortete der Kriminalrat bitter, „ ich habe dich verstanden, Günter. Schade um unsere Freundschaft.“ -
Luise dachte nun gern zurück an den sonnigen Urlaub auf La Palma. Das Gemälde des Guanchen machte sich zudem recht dekorativ über ihrem Sekretär. Längst hatte sie alle mystischen Mutmaßungen darüber als Hirngespinste verworfen. Dennoch mochte sie niemandem Einzelheiten des Bilderkaufs erzählen; denn dabei hätte sie unwillkürlich auch an den merkwürdigen Schöpfer des Bildes denken müssen. Die Erinnerung an ihn aber bedrückte sie, ließ ihr Herz pochen. Sie musste sich dann ablenken, Betten beziehen oder spazieren gehen.
Als an diesem Abend im Fernsehen eine Dokumentation über Vulkane gezeigt und über die verborgenen Gefahren für die Welt berichtet wurde, die durch das mögliche Zusammentreffen von Gesteinsschollen in der brodelnden Magma unter La Palma entstehen könnten, da beschlich sie ein banges Frösteln. Erinnerungen an das, was sie vor Reiseantritt darüber gelesen hatte, und an den Anblick der gewaltigen Ascheberge im Süden sowie an die Weite der Caldera, ließen sie erschauern. In der Nacht plagten sie Albträume, immer wieder wachte sie auf; schweißnass lauschte sie in die stille Nacht hinaus. Ausgerechnet an diesem Tag war sie allein, ihr Mann Peter war auswärts auf einer Schulung.
Da! Was war das? Nur Einbildung? Oder hatte sie es wirklich gehört?
Luise saß aufrecht im Bett. Ganz deutlich hatte sie ihn vernommen, diesen langgezogenen klagenden Schrei! Er musste von unten gekommen sein, - aus dem Wohnzimmer, aus dem Arbeitszimmer oder aus dem Keller. Oder doch von draußen, von der Straße? Sie wollte das Licht anknipsen, aber es funktionierte nicht. Alles blieb dunkel. Sie sprang aus dem Bett, eilte ans Fenster, öffnete es weit.
Draußen war alles ruhig, eine dicke Wolke schob sich gerade vor den Vollmond. Und mit ihr kam Wind auf, der sich in Minuten zu einem heulenden Sturm steigerte. Krachend brach ein Ast von einem nahen Baum. Ängstlich stützte Luise sich auf der Fensterbank ab. Ihr ganzer Körper schien zu beben.
Aber nein, vibrierte, bebte nicht die ganze Fensterbank? – Bebte nicht das ganze Haus? Oder fühlte es sich nur so an, weil sie selber am ganzen Leib schlotterte? Ein Kreischen drang durch das Sturmgeheul an ihr Ohr. Der Angstschrei eines Menschen? Oder nur der defekte Anlasser eines davonfahrenden Autos? Der Wind fegte welkes Laub über die Straße. Im fahlen Licht des Mondes, der gerade wieder hinter der Wolke hervor gekrochen kam, erschienen die Blätter Luise sekundenlang wie eine Schar flüchtender Tiere. -
„In der Nacht gab es einige leichte Erdstöße“, meldete der Nachrichtensender am nächsten Morgen. Nennenswerte Schäden habe es wohl keine gegeben. Hierzulande ein Erdbeben? Das mochte manch einen Radiohörer erschrecken. Luise hingegen war regelrecht erleichtert. Klar, beim ersten Erdstoß hatte jemand auf der Straße vor Schreck kurz aufgeschrieen. So einfach war das. Sie musste über sich selber lachen. Später telefonierte sie mit Marion, um ihr zu berichten, welche nachhaltigen Eindrücke La Palma offenbar bei ihr hinterlassen habe, dass ihre Fantasie davon heute noch derart angeregt werde.
„Ursache ist das pseudo-sakrale Guanchen-Bild“, lästerte Marion mit kriminalistischem Scharfsinn. „ Ist ja böse. Denk’ an Zimmermädchen! Etwas ist immer dran, an solchen Gerüchten. Unheimliches, Unerklärliches verfolgt uns Menschen länger als die schrecklichste Realität. Davon kann ich ein Lied singen.“
Luise lachte endlich befreit auf. „Die letzte Nacht war ganz heilsam. Ich glaube, nun hab ich’s überwunden, - nach der ernüchternden Meldung heute Morgen in der Zeitung.“
„Siehst du, liebste Freundin, es gibt für alles ’ne ganz einfache Erklärung“, erwiderte Marion zufrieden. Und offenbar gut gelaunt fügte sie hinzu: „Auch ich erlebe manchmal Zeichen und Wunder.“
„Davon hast du mir aber noch nie erzählt.“
„Dann tue ich es jetzt. Stell’ dir vor: eine verschwundene Akte, von Scharen erfahrener Kriminalisten vergeblich gesucht, liegt heute - wie von Geisterhand bewegt - ordentlich auf meinem Schreibtisch.“
„Darin sehe ich kein Wunder. Die Akte hatte wohl jemand bei euch verschlampt und dir dann bei Nacht und Nebel unbemerkt auf den Schreibtisch gelegt.“
„A-a-a-ber, hier im Hause?! Das würde nie einer tun!“, spottete Marion.
Nach dem Gespräch ging Luise fröhlich gelaunt in ihr Arbeitszimmer – und erstarrte.
Ihr bot sich ein gespenstischer Anblick: Der Bilderrahmen war völlig aus dem Leim. Was einmal die Leinwand gewesen war, hing heraus als schmutzig-weißes, zerrissenes Tuch, unschwer als Rest eines Hemdes auszumachen. Der Sekretär und der Fußboden davor waren übersät mit Staub und Asche, schwarz, grau und braun. Alles Rot war verschwunden. Es roch zudem verbrannt und nach Schwefel.
Minutenlang stand Luise mit geschlossenen Augen da. Das konnte doch alles nicht wahr, nicht Wirklichkeit sein! Sicherlich würde sie gleich aufwachen, und das gewohnte Leben hätte sie wieder eingefangen. In der Wirklichkeit würde sie zurückfinden zur Normalität, in den gewohnten Alltag.
Aber was war diese Wirklichkeit? - Nur die simple Verlängerung von Vergangenem? Hier ein vergangener Traum – dort die Fortsetzung des Lebens? Oder gibt es etwas, das zwischen Traum und Wirklichkeit existiert? Etwas, das weder geträumt noch real zu sein scheint, und das dennoch wahr ist? Sie mochte, nein - sie konnte auch später nie mit ihrem Mann darüber sprechen! Selbst ihrer besten Freundin, die fast alles hautnah miterlebt hatte, wollte sie es nicht erzählen; es wäre ihr peinlich gewesen. Oder fürchtete sich Luise, vom Unerklärlichen, vom Unheimlichen, vom Erleben überirdischer Erscheinungen etwas preis zu geben?
Das anfängliche Entsetzen wich einer seltsamen Ruhe. Irgendetwas in ihr, das bisher im Dunkeln lag, schien hell zu erstrahlen. Stumm, mechanisch, wie von einer fremden Macht geleitet, kehrte Luise sorgsam Staub und Asche zusammen und füllte beides in eine Plastiktüte. Den Bilderrahmen nahm sie von der Wand und brachte ihn zum Sperrgut in die Garage.
Abends machte sie sich auf zum nahen Friedhof, - mit einer kleinen Schaufel, ein paar Buchsbaumpflanzen und einer Plastiktüte. Im Schutz der Dunkelheit hob sie wie in Trance ein winziges Grab aus, um einen Plastikbeutel mit grauer Asche zu verbuddeln und anschließend einige Buchsbäumchen darauf zu pflanzen.
Team-Arbeit
Die „Akte Bruno“ bestand lediglich