„Das kann doch nicht wahr sein!“, schaltete Hoffeld sich ein. „Zum Glück haben wir ja noch die Mikroverfilmung in unserem Archiv.“
„Daran kommen wir nur mit schriftlicher Genehmigung von Dr. Kämmereit“, erklärte Berger. „Ich habe ihn deshalb schon angesprochen.“
„Und?“, fragte Marion.
„Wir müssten dazu einen Antrag stellen und den schriftlich begründen. Sankt Bürokratius lässt grüßen.“
„Oder man will uns die Unterlagen vorenthalten, - vielleicht, damit die Schlamparbeit von damals nicht ans Tageslicht kommt. So etwas ist glatte Sabotage unserer Arbeit“, echauffierte Hoffeld sich.
„Ja, so kann man das vielleicht nennen“, bestätige Marion bitter. „Stellen Sie den Antrag und unterrichten Sie mich, - auch wenn ich nächste Woche nicht hier sein werde.“
„Aber in Ihrem Erholungsurlaub belästigen wir Sie damit nicht.“
„Für den Fall, dass unsere Forderung trotz des lächerlichen Antrags abgewiesen wird, will ich unverzüglich informiert werden. Auch auf La Palma“, wies Marion ihre Kollegen an. “Ich kriege die Akte. Wenn nicht im Guten, dann eben auf anderem Wege. Und ich weiß auch schon wie ...“
Urlaubsbilder
Peter hatte Marion und Luise zum Airport gefahren. Rasch half er beim Kofferausladen, verabschiedete sich in aller Eile und setzte sich sogleich wieder ins Auto; denn hinter ihm ertönte bereits ein kakophonisches Hupkonzert. Zuvor hatte Sven sich angeboten, die beiden Damen zu fahren, Marion aber wusste, welch ein ungutes Gefühl der Erinnerung es in ihm wecken würde, die geliebte Frau am Flughafen zu verabschieden. „Er ist zwar ein knorriger Hackklotz, aber eben auch ein Sensibelchen“, erklärte sie ihrer besten Freundin.
Den einwöchigen Sonderurlaub hatte Dr. Sowetzko für seine Kommissarin durchgesetzt. Sie musste ihn leider unverzüglich antreten, da er als Erholungsmaßnahme nach ihrer Schussverletzung deklariert worden war und durch einen Aufschub seinen Sinn einbüßen würde. Tochter Svenja hatte zu dieser Zeit Schule, und Sven konnte in seiner Position nicht so plötzlich Urlaub nehmen. Allein zu reisen, dazu hatte sie auch keine Lust.
Ihre Freundin Luise aber fand sich spontan zu einer gemeinsamen Reise bereit. Als Ziel hatte Marion die Kanaren-Insel La Palma vorgeschlagen wegen der rauen Ursprünglichkeit und mannigfachen Naturschönheiten, von denen einige Kollegen ihr begeistert berichtet und damit ihre Neugier geweckt hatten.
Am Tag der Abreise fand sie früh am Morgen endlich eine Gelegenheit, mit ihrem Kollegen Petzold ein vertrauliches Gespräch zu führen über die merkwürdigen Entscheidungen der Obrigkeit, zwei Fälle vom K20 zum K21 zu delegieren. Mehrmals versicherte sie ihm, dass dies völlig ohne ihr Zutun geschehen sei. Ja, sie selber könne sich so recht keinen Reim darauf machen.
Petzold vertraute zwar ihren Worten, konnte sich aber eine Bemerkung nicht verkneifen: „Vielleicht seid ihr ja einfach die Besseren.“
Marion lachte. „Derartige Erkenntnisse haben hier im Hause kaum jemals Entscheidungen beeinflusst. Nein, Gerd, da mach’ dir man keine Sorgen.“
„Es geht das Gerücht um, du solltest die Nachfolgerin von dem Alten werden. Und das sehr kurzfristig.“
Marion blickte ihn verwundert an. „Ich bin konkret noch nicht gefragt worden. Und von kurzfristig ist schon gar keine Rede. Nehmen wir ’s weiterhin als reine Spekulation.“
Petzold wusste noch einiges mehr vom Flurfunk: „Mit einer Beförderung können sie dich bei dem ominösen Fall Bruno elegant aus dem Verkehr ziehen.“
„Latrinengerüchte.“ Aber so ganz schnell konnte Marion die Worte ihres Kollegen nicht verdrängen. -
Luise hatte vor einigen Tagen schon Reiseführer und andere Literatur studiert, darunter auch eine Abhandlung über die geologische Gefahr, die von dieser Insel ausgeht, wenn irgendwann einmal die riesigen Kontinentalplatten unter ihr kollidieren werden und dadurch eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auslösen könnten. Obwohl sie kein übertrieben ängstliches Wesen war, plagte sie seit Tagen eine seltsame Furcht. Sie schlief unruhig, hatte keinen Appetit, einen trockenen Hals, und ab und zu schmerzte ihr Magen. Was war das eigentlich, das sich da wie ein böser Traum über ihr Leben zu breiten schien? War es nur die blühende Fantasie, die Angst vor einer Naturkatastrophe? Oder war es so etwas wie Vorahnung auf ganz andere Ereignisse?
Während des vier Stunden langen Hinflugs von Düsseldorf nach La Palma studierte Luise weiterhin Reiseführer und die Geschichte des Landes. Sie war fasziniert vom Leben der Ureinwohner, den Guanchen, und ihrem wechselvollen Schicksal.
Ihre Freundin Marion war mehr fürs Praktische. Sie befasste sich lieber mit Straßenkarten und Wanderwegen zu den zahlreichen Sehenswürdigkeiten; denn sie sollte das am Flughafen vorbestellte Auto über die Serpentinen der gebirgigen Insel kutschieren. Denn tiefe Täler, schroffe Felsen, zerklüftetes Vulkangestein, plötzlich auftauchende dichte Nebelschwaden und mittendrin die gewaltige Caldera de Taburiente, der größte Vulkankrater der Welt, - nein, diese Zeugnisse erdrückender Naturgewalten animierten Luise nicht gerade, sich dort ans Steuer zu setzen, zumal dies Marion offenbar nicht im Geringsten zu ängstigen schien.
Als die Maschine in spürbare Turbulenzen geriet, wurde Luises Gesicht schneeweiß, und sie lauerte verstohlen zur Papiertüte. Marion beruhigte ihre Freundin. So etwas sei ganz normal über dem Atlantik. Eine Stunde später setzte die Boeing hart auf und legte wegen der kurzen Landepiste die hier übliche Gewaltbremsung hin. Luise spürte, wie ihr Körper gegen den Gurt gepresst wurde, und es schwand erst mal die Vorfreude auf den bevorstehenden Urlaub.
Ein paar Tage später sah alles viel freundlicher aus. Die Sonne strahlte bei frühlingshaft milder Temperatur, und es wehte ein lauer Wind. Die faszinierende Landschaft begeisterte auch die Flachländerin Luise, und die gewaltigen Gesteinsmassen der Vulkane Teneguia und San Antonio versetzten sie in ehrfurchtsvolles Erschauern vor den Kräften der Natur. Luise und Marion wanderten über die kilometerweite Lavawüste zu den beiden wuchtigen Kratern.
Am Kraterrand des Teneguia angelangt, erklärte Marion kühl und sachlich: „Das Ding hier ist im Jahre 1971 ausgebrochen. Ist ja noch gar nicht so lange her.“ Und Luise sah in die von der aufsteigenden Wärme flimmernde Luft und roch die schwefligen Gase, die dem Erdinnern entwichen. Ein Geruch, den sie tagelang nicht mehr aus der Nase bekam.
Ihr kleines Hotel lag in Meeresnähe im romantischen Fischerort Tazacorte. Mit Shopping-Freuden war’s nicht so toll bestellt auf dieser Insel, und der schwarze Sand an den wenigen flachen Strandbuchten lud nur selten zum Baden ein; zu gefährlich waren oft auch die Wogen des Atlantiks. Weil man nicht pausenlos wandern und Natur bewundern konnte, war es eine willkommene Abwechslung, vor den dicken Kaimauern, über welche die Gischt spritzte, einem bunt gekleideten alten Mann zuzuhören, der Lieder zu merkwürdigen Harmonien sang, dann gebetsartig daherschwafelte und dabei bunte Öl-Bilder feilbot. Dann wieder wandte er sich seiner primitiven Staffelei zu und begann mit Feuereifer zu malen, als habe ihn soeben eine zwingende Inspiration übermannt.
Die beiden Frauen betrachteten teils amüsiert, teils interessiert die gediegenen Bilder Es war gegenstandslose Malerei mit dick aufgespachtelten grellen Farben. „Das da neben der Palme,“ sagte Luise nachdenklich und zeigte auf ein Gemälde in der Größe eines mittleren Fernsehbildschirms, „das könnte ein hübscher dekorativer Farbklecks in meinem Arbeitszimmer sein. An der Wand über dem Sekretär, weißt du?“
Als Marion achselzuckend kundtat, keine so rechte Meinung davon zu haben, lenkte sie das Klingeln ihres Handys von der Beurteilung des Kunstwerks ab. Kollege Berger entschuldigte sich umständlich und hörbar verlegen, seine Chefin im Urlaub dienstlich zu behelligen.
„Das ist völlig okay“, unterbrach Marion ihn. „Also, was gibt’s? - Haben Sie die Akte