Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Friedrich Schultze
Издательство: Bookwire
Серия: Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742796592
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ist ganz beschissen fatalistisch. Warum soll ich aufhören, nach meinem Glück zu suchen? Da kann ich mich ja gleich neben Camus beerdigen lassen!“

      „Je mehr du einem Glück, von dem du nicht weißt, was es ist, hinterher rennst, desto unzufriedener wirst du, desto mehr Leuten um dich herum wirst du auf die Nerven fallen. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus.“

      „Na gut, möglicherweise ist was dran an dem, was du sagst. Trotzdem bleibt dann für mich der Widerspruch, dass es anscheinend vollkommen wurscht ist, wie herum ich mich drehe, ändern kann ich doch nichts.“

      „Das ist die falsche Diskussion. Es geht doch zuerst nicht darum, dass außen sich etwas bessert. Du selbst musst dich ändern, musst eine vernünftige Einstellung zu dir selbst finden. Sicher ist das eine Charakterfrage. Aber manche sehen ihr Ziel bereits, für manche ist es sogar schon zum Greifen nahe, und trotzdem wollen sie nicht glauben, dass es das ihre ist.“

      „Und du kennst dein Ziel?“

      „Der Weg ist das Ziel, sagt Zarathustra.“

      „Wie tröstlich!“

      „Hör mal, du kommst so mir nichts dir nichts aus deinem Berlin“ – er sagte wirklich „aus deinem Berlin“ - „machst Annemarie nervös, weil sie denkt, dass ich wieder zuviel saufe mit dir und belästigst mich mit deinen Problemen. Versuche also bitte mal, ein bisschen ernsthaft zu sein und nicht auszuweichen.“

      „Also, ich finde nicht, dass ich ausweiche. Gestatte aber bitte, dass ich versuche, dir meine Sicht der Dinge zu offenbaren. Dass Annemarie ein wenig unruhig ist, schadet übrigens nichts. Da merkt sie wenigstens, was sie an dir verlieren würde.“

      „Du willst nicht fliegen, sondern FLIEHEN“, sage er, ohne auf meine Neckereien einzugehen.

      „Zu Behauptungen gehörten früher Beweise“, entgegnete ich ziemlich schwach.

      „Nicht weil du abhaun willst. Vor dir selber und deinen Problemen fliehst du, wenn du das nur mal begreifen wolltest. Meinst du, du wirst dich los, wenn du dich in eine andere Gegend begibst? Du weigerst dich, der Situation treu zu bleiben. Schon damals warst du auf der Flucht, als du dich von deiner Familie trenntest.“

      „Mann, wie willst du das beurteilen? Hast du vielleicht drin gesteckt?“ Ich spürte, wie recht er hatte.

      „Nein, aber ich kenne allmählich deinen Charakter. Dir fehlt die Schau. Und noch etwas: Immer, wenn du etwas hast, willst du etwas anderes. Immer, wenn du auf einem Weg bist, möchtest du lieber einen anderen gehen. Immer, wenn du dich wo niedergelassen hast, möchtest du bereits weiter.

      „Geht das nicht allen so? Geht`s dir nicht so?“

      „Das sind Empfindungen. Man bleibt aber bei seiner Aufgabe, falls man von einem Träumer zum Realisten geworden ist.“

      „Und vorausgesetzt, dass man überzeugt ist, im richtigen Loch zu graben.“

      „Willst du entscheiden, was wichtiger oder besser ist als das andere? Jeder hat seine Aufgabe. Nur wenn er sich nicht mit ihr identifiziert, fühlt er sich von ihr bedrückt. Ich halte nichts von Selbstverwirklichung.“

      „Praktisch sieht es aber so aus, dass es einerseits eine Menge Posten gibt, die für die Menschheit absolut unnötig sind, und dass andererseits eine Menge Leute Stellen besetzt halten, für die ihnen sowohl die Eignung als auch das Verantwortungsbewusstsein fehlen. Gehören die ebenfalls in dein Bild?“

      „Sicher. Aber ich hätte vielleicht sagen sollen: Jeder hätte seine Aufgabe, wenn er nur wollte. Du musst eben versuchen, innerhalb deines Einflussbereiches etwas zu tun. Oder willst du lieber eine neue Revolution organisieren?“

      „Das ist doch eine Illusion, Mann, dass man auf seinem Gebiet mehr Vernunft durchsetzen könnte! Man arrangiert sich und verkündet, dass man ja zumindest für sich selbst versucht, das Gute zu tun. Das riecht mir verdammt nach deiner idealistischen Weltanschauung, die dich lehrt, in Demut stillzuhalten und nicht wider den Stachel zu löcken. Der Marx hatte wirklich recht: Die Christen sind für die Machthaber die bequemsten Leute. Sie geben immer dem Kaiser, was des Kaisers ist.“

      „Du zitierst nur die Hälfte, mein Freund. Der Schluss lautet: ´...und Gott was Gottes ist´. Und das ist entscheidend für den Christen. Aber wenigstens sind wir wieder beim Thema. Es sind ja auch wirklich diese Fragen, die man sich stellen muss, wenn man noch einen Sinn sehen soll. Übrigens bestreite ich, dass Menschen, die vorm Tod keine Angst haben, weil sie glauben, dass sie damit von allen ihren Widersprüchen erlöst werden, wirklich bequem sind für diejenigen, die Macht über sie ausüben wollen.“

      Das Restaurant leerte sich mehr und mehr, und der Kellner hatte das Geschirr schon längst von unserem Tisch geräumt. Wir waren jeder beim vierten Bier angekommen.

      „Weißt du was“, fuhr er fort, „wir bezahlen jetzt und dann haun wir ab hier. Was sollen wir herumsitzen und uns den Wanst vollsaufen? draußen ist ein herrlicher Abend, wir sollten lieber noch ein Stück laufen. Ein bisschen Bewegung wird uns bestimmt gut tun. Und in klarer Luft denkt sich`s auch besser.“

      Beim Bezahlen sah ich mich im Raum um und bemerkte eine attraktive Blondine neben einem mir farblos scheinenden Mann. Unsere Blicke kreuzten sich kurz. Schien es mir nur so oder hatte sie fast unmerklich die rechte Augenbraue gehoben? Thomas hatte es wohl gesehen. Er knurrte nur: „Du kannst es nicht lassen. Ist wie ein Zwang, was?“

      Wir gingen hinaus. Inzwischen war es kurz nach neun. Schon blinkten die ersten Sterne am Himmel, der im Westen über dem Bergrücken noch recht hell war. Die Luft hatte sich bereits ein wenig abgekühlt. Ein sanfter Lufthauch umwehte uns angenehm. Ich dachte an die armen Menschen in den kochenden Städten.

      Wir schlenderten ohne Hast die schmale, gewundene Dorfstraße hinauf, vorbei an alten, jedoch zum Teil renovierten Umgebindehäusern mit herrlichen Türstöcken aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Die Abzweigung nach Neusorge ließen wir rechts liegen. Wir erklommen nun das letzte steile Stück der Straße von der Grenzbaude zum ehemaligen Zollhaus, um von da den Weg vom Schlagbaum rechts direkt an der Grenze zur Tschechoslowakischen Republik zu nehmen, der den Berg hinauf führte. Es roch nach frischem Grün, nach Dung, der kürzlich auf die Wiesen gebracht worden war, nach dem spezifisch herben Duft der aufbrechenden Buchenreiser und noch ein wenig nach verfaulendem Laub vom Vorjahr.

      An diesem Abend war hier die Welt scheinbar vollkommen in Ordnung. Kaum vorstellbar, dass die Menschheit allerorten damit beschäftigt war, den einstigen Frieden der Natur systematisch zu zerstören. Man benötigt wenig, um zufrieden sein zu können.

      Je weiter wir nach oben kamen, desto kälter wurde es. Unten lag das Dorf und schickte das vertrauensspendende Blinken seiner Lichter zu uns hinauf. außer uns schien niemand mehr unterwegs zu sein.

      Der steile Anstieg zwang uns, tief durchzuatmen, und wir taten es. Mit jedem Schritt fühlten wir uns wohler.

      Es war schön.

      Es war einfach schön.

      „Warum willst du bloß weg von hier, von uns?“, fing Thomas an. Meinst du nicht, dass du etwas dramatisierst? Versuch doch wenigstens einmal, die Sache von einer anderen Seite zu sehen!“

      „Das kann ich nicht. Ich sehe nur, dass ich entweder im Gleichschritt mitmarschiere und untergebuttert werde wie alle, oder, sollte ich mich entschließen, einmal wirklich laut und vernehmlich ´SCHEISSE´ zu brüllen, meinen wohlerworbenen Besitzstand einbüße. Manchmal denke ich, es wäre vielleicht anständiger, in den Knast zu wandern.“

      „Bist du sicher, dass du damit einen Nutzen erzielst? Bist du sicher, dass hier alles ´SCHEISSE´ ist? Hier hast du alles, was im Leben wirklich zählt: Freunde, Verwandte, deinen Sohn, deine Mutter, und irgendwo geistert doch auch noch diese Frau in dir herum. Mit der bist du doch noch längst nicht fertig, oder?

      Willst du dein Leben einfach abtrennen von allem? Auch von diesem Land hier, das doch deine Heimat ist?“

      Ich musste lachen.

      „Mensch,