Christian Friedrich Schultze
Nachtmahre
Eine Nachkriegsgeschichte
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Über 25 Jahre sind seit der Wiedervereinigung Deutschlands vergangen.
Als die ersten Chancen des Umbruchs in der DDR zu erkennen waren, sammelte ich mit vielen im Herbst ´89 Unterschriften für das „Neue Forum“ und geriet dann über die in der Noch-DDR neugegründete Sozialdemokratische Partei in die politische Arbeit und Verantwortung, die in jener Zeit zu übernehmen wichtig war. Vorher lebte ich wie die meisten abgeduckt in meiner Nische. Allerdings nicht im Schoss der Kirche, sondern in untergeordneten Positionen der DDR-Wirtschaft, wo ich meine Brötchen zu verdienen suchte.
Auch da gab es viele Gesprächskreise und Diskussionsrunden, vor allem auch mit fleißigen Arbeitern, Angestellten, Funktionären, Nicht-Genossen und (SED)-Genossen, die die Verlogenheit des Systems gründlich satt hatten. Denen sei mein Buch gewidmet, da sie es waren, die den Laden trotz Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit mancher Herrschenden recht und schlecht in Gang hielten – vor allem für „die da unten“, glaube ich.
Oft habe ich mich gefragt, warum Menschen dies trotz der widrigen, oft widerwärtigen Umstände taten. Ich glaube, es war eine Art Instinkt dafür, dass man in einer Wüste nicht stehenbleiben kann, sondern marschieren muss, auch wenn die richtige Richtung nicht ganz klar ist. Immerhin gab es solche, die verantwortlich gehandelt haben.
Die meisten damaligen Schriftsteller gehörten freilich nicht dazu. Der größte Teil der im DDR-Schriftstellerverband zusammengeschlossen Autoren schuf mit guten handwerklichen Fähigkeiten Werke in „kritischer Solidarität“ zu den bestehenden Verhältnissen und den stalinistischen Machthabern. Dabei wirkten sie nach meiner Ansicht mehr für die Stabilität des Systems als der Staatssicherheitsdienst, da sie das Märchen von der Verbesserungsfähigkeit und der „wissenschaftlichen“ Überlegenheit dieses Systems in tausend Varianten verbreiteten. Für uns war es eine Zeit der Herrschaft von Nachtmahren. Sie kam uns wie ein Alptraum vor.
Ich habe mich immer gefragt, wie denn in einer späteren Zeit die Menschen aus der DDR-Literatur erfahren sollten, welche Verhältnisse „damals“ für die geherrscht haben, die den Stalinismus hassten, da sie des „Zwischen-den-Zeilen-Lesens“ nicht mehr kundig sein würden. Vor allem deshalb habe ich mich in jenen langen Nächten hingesetzt und mich als wirklich schreibender Arbeiter empfunden, der es nicht nötig hatte, als eine Art Hofnarr ein (zugegeben mitunter sogar kritisches) Lied für seine Herrscher zu singen.
Dieses Buch ist keine Autobiographie! Mein Held ist Martin Wauer, ein ganz normaler Opportunist, der von einer Desillusionierung in die andere fällt und schließlich einmal aufbegehrt. Nachtmahre ist auch meinen Kindern gewidmet, denen es hoffentlich vergönnt ist, in einer harten, gefährdeten Welt ihren Weg als freie Menschen zu finden.
Denn die Nachtmahre sind, wie wir in diesen Tagen tragisch erfahren, keineswegs ausgestorben. Ihnen und ihrer Generation kann diese Geschichte vielleicht ein wenig zur Aufklärung helfen, die uns allen so Not tut.
Christian Friedrich Schultze
Berlin, im Herbst 1983 und im Frühjahr 1991
Dresden, im Frühjahr 2017
1. Kapitel
1.
Als ich dieses Haus gerade betreten wollte, überkam mich das sonderbare Gefühl, dass Anita mich von der anderen Straßenseite her beobachten würde.
Ich sah mich um, konnte sie aber nirgends entdecken. Ich spürte jedoch ganz deutlich, dass sie zugegen war. So stieg ich zur Tür jenes Hauses also nicht empor, sondern ging, um ihr eventuell zu begegnen, mit raschen Schritten die enge, durch hohe, schmale, mittelalterlich wirkende und mit schön bemalten Häusern, gesäumte Straße hinunter.
Etwas verwirrte mich: Von den stetig an mir vorbei gleitenden, grauen, menschenähnlichen Gestalten konnte ich keinen Laut, kein Schlurfen von Schritten, keinen Atemzug vernehmen. außerdem stellte ich fest, dass sie allesamt mit starren Augen apathisch geradeaus, unentwegt an mir vorbeisahen. Innen, ganz tief in meiner Mitte, begann ich einen wachsenden, tief bohrenden Schmerz verspüren
Plötzlich, völlig unvermittelt, fing ich an zu weinen. Ich wunderte mich, dass dennoch niemand von mir Notiz nehmen wollte und alle mir Entgegenkommenden eilig einem ganz bestimmten Ziel zuzustreben schienen. Anita konnte ich indes nicht entdecken. Und da die Menge, grau und lautlos, immer dichter wurde und mich dadurch zunehmend am Vorwärtskommen hinderte, beschloss ich, in ihrem Strom wieder zurückzukehren zu jenem Haus und endlich dort hineinzugehen, wie ich es anfangs bereits vorgehabt hatte. Schon mein ganzes Leben war es mein Ziel gewesen, einmal ein solches Haus aufzusuchen. Es war deshalb nicht weiter verwunderlich, dass ich mich jetzt, wo es soweit war, darüber einigermaßen aufregte.
Der Schmerz in mir brannte unterdessen weiter und weiter, und die Tränen liefen mir die Wangen herab, und das Schluchzen ließ sich einfach nicht