Nachtmahre. Christian Friedrich Schultze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Friedrich Schultze
Издательство: Bookwire
Серия: Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742796592
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angerufen, der ein wenig knurrte wegen des Überfalls und war dann am nächsten Tag mittags losgefahren. In Zittau hatte ich bei Annemarie noch Kaffee getrunken und versucht, sie etwas zu besänftigen. Dann holte ich Thomas aus seinem Krankenhaus ab.

      Wir hatten unser Zimmer bereits bezogen und uns noch etwas frisch gemacht. Nun, da der Tag zur Neige ging, aßen wir gut und billig und spürten wegen des Bieres eine gewisse Erschlaffung.

      Es war ein warmer, sonniger Maientag gewesen, und ich beglückwünschte mich zu dem schnellen Entschluss, dem hitzeflimmernden Betoneinerlei der Hauptstadt entflohen zu sein. Der Mai in diesem Jahr war besonders heiß, sagte man überall.

      Ich versuchte Thomas zu erklären, was mit mir los war. Ich brauchte jetzt jemanden, dem ich meine Nöte anvertrauen konnte und dessen Urteil für mich Wert hatte. Seit dem Gespräch mit Robert an dem Tag, an dem wir Vater beerdigten, nagte der Gedanke in mir, dass die Lösung meiner Probleme in Roberts Angebot liegen könne und mir lediglich der Mut fehlte, dieser ummauerten Enklave zu entfliehen.

      Als ich mich gewissermassen erst einmal ein wenig ausgeheult hatte, sah mich Thomas einen Moment lang recht eigentümlich an. Sein Blick war eine Mischung aus Verdutztheit, Spott und Mitleid, als er sagte:

      „Das kann man natürlich auch alles ganz anders sehen, mein Lieber.“

      Natürlich, man kann alles von allen möglichen Seiten sehen. Nur, eine muss doch die richtige sein, oder?

      Thomas Deutscher ist mein Freund seit vielen Jahren.

      Seit wann eigentlich? Genau weiß ich es nicht mehr. Es muss zu einem der Faschingsbälle gewesen sein, die die Zittauer Penne damals alljährlich veranstaltete. Das war so eine Sitte, und der Oberschulkarneval etwa genauso berühmt, wie das für die gesamte Umgebung bedeutende Großschönauer „SCHISSN“. Wer weiß, ob es das heute noch gibt?

      Alle Ehemaligen wurden zu diesem Ereignis eingeladen. Ich war allerdings kein „Ehemaliger“. Aber ich war mehrere Jahre zur Abendoberschule gegangen, und daher kannte ich einige. Auch solche, die von der Großschönauer Schule stammten oder aus dem Sportverein. Außerdem gab es stets Mädchen, für die man sich interessierte. Also ließ ich mir Karten besorgen. Drei oder vier Jahre hintereinander ging ich hin, dann verlor ich das Interesse, aus Gründen, wie du noch sehen wirst.

      Thomas war zu der Zeit einer der führenden Leute dort. Zusammen mit einigen anderen wie Schmitti und Tomzy, die die Grössten in Physik und Mathe waren, was sie später auch studierten. Schmitti sogar in Leningrad. Oder wie Charlie, der weniger wegen seiner schulischen Leistungen berühmt war, sondern wegen seiner Band, in der er der Leader und Pianist war und die seinerzeit für Aufsehen sorgte.

      Das weiß heute anscheinend auch keiner mehr, wie schwer es damals war, unter den Augen der stalinistisch denkenden und fühlenden Obrigkeit und unter Einhaltung der AWA-Vorschriften den begehrten Rock`n Roll, den Twist und die neue POPMUSIK der Beatles in unsere Tanzsäle zu bringen. Wer erinnert sich noch dieser Revolution?

      Die Schulbands waren ihre Avantgarde. Wie oft bekamen sie Spielverbot! Wir aber standen hinter ihnen, fochten ihren Kampf mit, versuchten es, über die FDJ-Leitungen zu drehen, hatten endlich etwas, womit wir die Etablierten reizen konnten. Wie trostlos ist es, wenn einem alles erlaubt ist, wie den heutigen, besonders drüben!

      Die Orthodoxen von der FDJ-Leitung standen bald auf verlorenem Posten, bis auch sie nachgaben, wenn auch erst nach Jahren und als die OBEN es erlaubt hatten.

      Ich erinnere mich an klare, kalte Winternächte mit viel Schnee und Myriarden von Sternen. An Heimwege mit der Clique und Tanzabende in dunkelblauweißen Schneemondnächten mit anschließenden Schmusepartys bei sturmfreien Arzttöchterleins. Thomas wirkte schon damals reifer und weiter als wir alle. Er blieb ruhig und reserviert, strahlte aber eine gewisse Arroganz aus, die uns jedoch eher anzog als abstieß. Besonders natürlich die Mädchen.

      Ging es um Philosophie oder Theologie, dann machte er plötzlich mit. Wir führten endlose Diskussionen und waren begeistert von unseren intelligenten Disputen. Damals war uns das meiste viel klarer als heute.

      Über Weibergeschichten redete Thomas nie, ganz im Gegensatz zu uns anderen. Ich glaube, er wusste zu der Zeit so ziemlich als einziger von uns richtig, wie es lang ging.

      Damals spannte er mir eine meiner platonischen Freundinnen aus und hielt dann eine ganze Weile zu ihr. Ich begriff, dass er sie zur Frau machte und sie mich nun als ziemlichen Idioten ansehen musste. Anfangs war es wohl eine recht einseitige Geschichte. Ich brauchte ihn, lernte von seiner Art, die Dinge zu durchdringen und an den wunden Punkt zu gelangen. Ich wollte ihn, er ließ es sich gefallen. Es war seine angeborene Gabe des lateralen Denkens, die mich immer wieder verblüffte und mich anzog. Sie half mir oft, die Dinge von der rentableren Seite her anzugehen.

      Später dann, als die schönen und unbeschwerten Jahre vorbei waren, er in Berlin Medizin studierte und wir uns nur noch selten sahen, begann unsere dauerhafte Freundschaft, die mir viel wert ist, auch wenn wir mit den Jahren große Unterschiede in unseren Weltanschauungen hergestellt haben. Er hielt mit seiner Wahrheit nie hinter dem Berg und legte einen meist erfolgreich bloß. Manchmal braucht man so etwas, auch wenn es nicht gerade angenehm ist; seltsam.

      So entsprach es nur seiner alten Gewohnheit festzustellen, dass man meine Probleme auch ganz anders sehen könne.

      Anders ja, aber was war richtig für mich?

      „Streitet doch niemand ab“, erwiderte ich. „Nur ob wir zwei beiden die objektive Wahrheit herausfinden, ist eben die Frage. Jedenfalls muss ich mir jetzt langsam klar werden, was ich mache.“

      „Was ist Wahrheit?“ meinte er, ein uraltes Bibelwort zitierend. „Und was ist kaputt bei dir? Nur das Gemäuer oder sind es bereits die Fundamente?“

      „Wer sagt dir denn, dass ich in alten Löchern graben will? Ich will was vollkommen Neues machen, wenn du verstehst, was ich meine.“

      „Das ist der Irrtum, den alle begehen. Sie glauben, aus ihrem Schatten springen zu können.“

      „Besteht nicht darin der Sinn des Lebens, im unentwegten Versuch, über den eigenen Schatten zu springen?“

      „Wollen und können ist ein gewaltiger Unterschied. Die meisten vergeuden mit solcherlei Übungen nur ihre Zeit, mit der sie was Nützlicheres anfangen könnten.“

      „Das ist ja gut“, ereiferte ich mich, „lassen wir`s also lieber gleich bleiben und den Dingen ihren Lauf! He, Alter, bist du müde geworden oder faul, etwas Neues anzufangen, gelegentlich?“

      „Ich denke, heute geht`s um dich??“

      „Na gut, ich hab mein Problem. Aber wie sollst du mir helfen, wenn du nicht verstehst, wenn du überhaupt nicht so empfindest?“

      „Ich hab was dagegen, wenn versucht wird, Mauern umzurennen, wenn man drübersteigen kann.“

      „Aber das ist doch genau, was ich will! Es hat gar keinen Zweck, gegen all diese Mauern zu rennen. Da geht man nur kaputt dabei, manche früher, andere später.“

      „Wir reden aneinander vorbei, leider. Was dich betrifft, ist es der alte Traum vom Fliegen, der dich erfasst hat. Jeder träumt ihn mal, bis er bemerkt, dass er nicht dafür geschaffen ist. Wir sind anders determiniert, mein Freund. Lässt du mal alles Drumherum weg, bleibt die Pflicht, deine Pflicht zu erfüllen, übrig. Vorausgesetzt, du erkennst endlich, worin sie besteht. Wenn es gut gewesen ist, dein Leben, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen, glaub`s endlich!“

      „Solltest du wirklich nicht sehen, in welch ausweglose Lage manche gedrängt werden; wie sinnlos es für viele geworden ist? Ich gebe meinen Traum von etwas Besserem nicht auf. Auch Männer, die ihre Pflicht erfüllten, haben ihren Flug gehabt, und die Welt spricht mit Bewunderung von ihnen. Es kann doch nicht falsch sein, aus diesem mittelmäßigen Trott heraus zu wollen.“

      „Dazu braucht man Talent, und wir wissen nicht, ob wir genügend davon haben. Du willst, dass etwas Besseres für dich dabei herausschaut, das ist dir die Hauptsache. Dabei übersiehst du, dass es viel