Zu Niemanden sprach er von Johanna, in seinem Innern verbarg er seinen Kummer – und eine tiefe Bedeutung legte er der Geschichte von den beiden Pfeffertuchen bei; jetzt begriff er, weshalb die Mannsperson dort eine bittere Mandel links hatte, er selbst hatte einen bitteren Geschmack davon; und Johanna, die stets so mild und freundlich war, sie war lauter Honigkuchen. Es war, als preßte der Riemen seines Ränzels dermaßen, daß er kaum zu athmen vermochte; er löste ihn, allein es half nichts; nur die halbe Welt erblickte er um sich, die andere Hälfte trug er in sich, in seinem Innern, so stand es mit ihm!
Erst als er die hohen Berge erblickte, ward die Welt ihm freier, seine Gedanken wandten sich nach außen; Thränen traten in seine Augen.
Die Alpen schienen ihm die zusammen gefalteten Flügel der Erde zu sein; – wie, wenn sich diese entfaltete? die großen Schwingen mit ihren bunten Bildern von schwarzen Wäldern, brausenden Gewässern, Wolken und Schneemassen ausbreitete? Am jüngsten Tage erhebt die Erde die großen Flügel, steigt gen Himmel und zerplatzt wie eine Seifenblase in dem Strahlenglanze Gottes. »O, wäre es nur der jüngste Tag!« seufzte er.
Still wanderte er durch das Land, das ihm wie ein rasenbedeckter Fruchtgarten erschien; von den hölzernen Altanen der Häuser nickten ihm klöppelnde Mädchen zu, die Bergesgipfel glühten in der rothen Abendsonne, und als er die grünen Seen zwischen den dunklen Bäumen sah – dachte er an die Küste bei dem Kjögemeerbusen, und wohl die Wehmuth, aber nicht der Schmerz wohnte in seiner Brust.
Dort, wo der Rhein wie eine lange Woge dahinrollt, zerstäubt, und in schneeweiße, klare Wolkenmassen verwandelt wird, als ginge hier die Schöpfung der Wolken vor sich – der Regenbogen flattert wie ein loses Band darüber hin, – dort dachte er an die Wassermühle bei Kjöge, wo die Gewässer brausen und schäumen.
Gern wäre er hier in der stillen Rheinstadt geblieben, allein es waren hier gar zu viele Flieder- und Weidenbäume – deshalb zog er weiter, über die hohen, mächtigen Gebirge, durch zersprengte Felswände und auf Wegen, die Schwalbennestern gleich an der Bergwand hingen. Die Gewässer brausten in der Tiefe, die Wolken lagen unter ihm; über Disteln Alpenrosen und Schnee schritt er in der warmen Sommersonne dahin, – und sagte den Landen des Nordens Lebewohl und trat unter blühende Kastanienbäume, schritt durch Weingärten und Maisfelder; die Berge waren eine Mauer zwischen ihm und allen seinen Erinnerungen, und so mußte es sein.
Vor ihm lag eine große, prächtige Stadt, sie nannten sie Milano, und hier fand er einen deutschen Meister, der ihn in Arbeit nahm; es war ein altes, frommes Ehepaar, in dessen Werkstätte er arbeitete. Die beiden Alten gewannen den stillen Gesellen lieb, der wenig sprach, aber desto mehr arbeitete und fromm und christlich lebte. Ihm schien es auch, als habe Gott die schwere Last von seinem Herzen genommen.
Seine schönste Lust war, dann und wann auf die mächtige Marmorkirche zu steigen, die schien ihm wie von der Heimath Schnee geschaffen und zu Bildern, spitzen Thürmen, buntgeschmückten offenen Hallen geformt zu sein; von jedem Winkel, jeder Spitze, jedem Bogen herab lächelten ihn die weißen Bildsäulen an. Ueber sich hatte er den blauen Himmel, unter sich die Stadt und die weitgedehnte, grüne lombardische Ebene, und gen Norden die hohen Berge mit dem ewigen Schnee, – dabei dachte er an die Kjögekirche mit ihren rothen, von Epheu umrankten Mauern, aber er sehnte sich nicht fort; hier, hinter den Bergen, wollte er begraben sein.
Ein Jahr hatte er hier gelebt, es waren drei Jahre verflossen, seitdem er die Heimath verlassen; da führte sein Meister ihn eines Tages in die Stadt, nicht nach der Arena zu den Kunstreitern, nein, in die große Oper, – und dort war auch ein Saal, der des Beschauens werth war. In sieben Etagen hingen die schönsten seidenen Vorhänge hernieder, und vom Fußboden an, schwindelnd hoch bis zur Decke hinauf saßen die feinsten Damen mit Blumenbouquets in den Händen, als wenn sie auf den Ball gehen wollten, und die Herren waren in vollem Staat und viele von ihnen mit Gold und Silber geschmückt; es war dort so hell wie in dem klarsten Sonnenscheine, und die Musik brauste herrlich, es war viel prächtiger als die Komödie in Kopenhagen, aber dort war Johanna ... Hier war sie auch – ja, es war wie ein Zauber ... der Vorhang ging auf, und auch hier stand Johanna in Gold und Seide, mit der goldenen Krone auf dem Haupte; sie sang, wie nur ein Engel Gottes zu singen vermag, sie trat so weit hervor, wie sie nur konnte; sie lächelte, wie nur Johanna zu lächeln vermochte; sie blickte gerade auf Kanut herab. Der arme Kanut ergriff die Hand des Meisters, indem er laut »Johanna!« rief; doch kein Anderer hörte es, die Musik übertönte Alles, nur der Meister nickte mit dem Kopfe dazu. »Ja wohl, sie heißt Johanna!« – und dabei zog er ein gedrucktes Blatt hervor und zeigte Kanut ihren Namen, – der volle Name stand da zu lesen.
Nein, das war kein Traum! Alle Menschen jubelten und warfen ihr Blumen und Kränze zu, und jedes Mal, wenn sie abging, riefen sie sie auf's Neue; sie ging und kam immer wieder.
Auf der Straße schaarten die Menschen sich um ihren Wagen und zogen denselben davon. Kanut war in der vordersten Reihe und jubelte am fröhlichsten auf; und als der Wagen vor ihrem prächtig erleuchteten Hause Halt machte, stand Kanut an der Wagenthür, dieselbe sprang auf, sie trat heraus, die Lichtstrahlen fielen auf ihr liebes Antlitz und sie lächelte und bedankte sich freundlich mild, und war tief gerührt; Kanut blickte ihr gerade in's Gesicht, auch sie blickte ihm in's Gesicht, – aber sie kannte ihn nicht. Ein Mann, auf dessen Brust ein Stern strahlte, reichte ihr den Arm – die Beiden seien verlobt, sagte man.
Darauf ging Kanut nach Hause und schnürte sein Ränzel; er wollte, er mußte nach der Heimath zurück, zum Flieder-, zum Weidenbaum – ach, unter den Weidenbaum! In einer Stunde kann man ein ganzes Menschenleben durchlaufen.
Das alte Ehepaar bat ihn, zu bleiben; – Worte vermochten nicht, ihn zurückzuhalten, vergeblich machte man ihn auf den Winter aufmerksam, sagte ihm, daß der Schnee schon in den Bergen gefallen sei; – in der Spur des langsam fahrenden Wagens, dem man doch den Weg bahnen müsse, meinte er, mit dem Ränzel auf seinem Rücken, gestützt auf seinen Stab, dahinschreiten zu können.
Er schritt auf die Berge zu, schritt sie hinab, hinab; entkräftet erblickte er noch kein Städtchen, kein Haus; er schritt gegen Norden. Die Sterne blinkten über ihm, es schwankten ihm die Füße, es schwindelte ihm der Kopf; tief im Thale blinkten gleichfalls Sterne, es war, als sei der Himmel auch unter ihm; er fühlte sich krank; die Sterne dort unten vermehrten sich fortwährend und strahlten immer heller, sie bewegten sich hin und her. Es war ein kleines Städtchen, in dem die Lichter flimmerten, und als er das begriffen, strengte er seine letzten Kräfte an und erreichte dort eine ärmliche Herberge.
Die Nacht und auch den ganzen folgenden Tag blieb er dort, denn sein Körper bedurfte der Ruhe und Pflege; es war Thauwetter; es regnete im Thale. Aber am andern frühen Morgen trat dort ein Leiermann ein, er spielte eine Melodie aus der Heimath, und nun vermochte Kanut nicht länger hier zu weilen; er zog weiter gegen Norden, er ging Tage, viele Tage lang mit einer Hast, als gelte es in die Heimath zu gelangen, bevor Alle dort gestorben seien; aber zu Niemandem sprach er von seiner Sehnsucht, Niemand hatte an seines Herzens Kummer, den tiefsten, den man haben kann, geglaubt; ein solcher ist nicht für die Welt, er ist nicht unterhaltend, nicht einmal für die Freunde. Fremd wanderte er durch die fremden Länder nach Hause gegen Norden!
Es war Abend; er ging auf der offenen Landstraße, der Frost begann, sich geltend zu machen, das Land selbst wurde immer ebener, mehr Feld und Wiese; an der Straße stand ein großer Weidenbaum; Alles sah ganz heimathlich aus, er setzte sich unter den Baum, er fühlte sich sehr ermüdet; sein Kopf neigte sich, seine Augen schlossen sich zur Ruhe, aber er empfand doch, wie der Weidenbaum seine Zweige über ihn ausstreckte, herabsenkte; der Baum schien ihm ein alter, mächtiger Mann zu sein. – Es war der Weidenvater selbst, der ihn auf seine Arme hob und ihn, den müden Sohn, zurück in das Heimathland, an den offenen, bleichen Strand, nach Kjöge, in den Garten seiner Kindheit trug. Ja, es war der Weidenbaum selbst von Kjöge, der in die Welt gewandert war, um ihn zu suchen; und jetzt hatte er ihn gefunden und war in den kleinen Garten am Bache zurückgeführt, und hier stand Johanna in ihrer Pracht mit der goldenen Krone auf dem Haupte, wie er sie zuletzt gesehen,