Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudyard Kipling
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746747873
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Hütte war geschlossen, doch Mogli hörte einen vertrauten Laut und sah, wie Messua entsetzt den Mund aufriß, als eine graue Pfote sich unter der Türritze durchschob und Graubruder draußen dumpf und kläglich winselte vor Angst und Sorge.

      »Draußen bleiben und warten!« rief Mogli in der Dschungelsprache, ohne den Kopf zu wenden. »Als ich rief, kamt ihr nicht.« Lautlos verschwand die große Pfote.

      »Bringe nicht – bringe nicht deine – deine Diener mit dir«, sagte Messua. »Ich – wir lebten stets in Frieden mit der Dschungel.«

      »Es ist Frieden«, sagte Mogli und erhob sich. »Denke an die Nacht auf der Straße nach Kanhiwara. Horden solcher Völker liefen vor dir her und hinter dir. Doch ich sehe, daß auch im Frühling die Dschungelvölker nicht immer vergessen. Ich gehe nun, Mutter.«

      Messua trat demutsvoll zur Seite; ein Waldgott ist er doch, dachte sie. Aber als seine Hand auf dem Türgriff lag, erwachte die Mutter in ihr, und wieder und wieder schlang sie die Arme um Moglis Hals.

      »Kehre zurück«, flüsterte sie. »Sohn oder nicht Sohn, kehre zurück, denn ich liebe dich – und sieh, auch er trauert.«

      Das Kind weinte, weil der Mann mit dem blanken Messer fortgehen wollte.

      »Kehre zurück«, wiederholte Messua. »Nie ist dir diese Tür verschlossen, bei Tag oder Nacht.«

      Etwas stieg hoch in Moglis Kehle, als ob die Stimmbänder gedehnt würden; seine Stimme schien wie mit Stricken aus ihm gezerrt zu werden, als er endlich sagte: »Gewiß, ich komme wieder.«

      »Und nun habe ich ein Wort mit dir zu reden, Graubruder«, sagte er und nahm den Kopf des Wolfes, der ihn an der Türschwelle umschmeichelte. »Warum kamt ihr nicht, alle vier, als ich euch rief vor langer Zeit?«

      »Vor langer Zeit? Verstrichene Nacht war es erst. Ich – wir sangen in der Dschungel die neuen Lieder, denn es ist die Zeit der ›Neuen Rede‹. Vergaßest du?«

      »Wahrlich, du hast recht.«

      »Und sobald die neuen Lieder gesungen waren«, fuhr Graubruder fort, »folgte ich deiner Fährte. Ich lief fort von den anderen und folgte dir heißen Fußes. Aber, kleiner Bruder, was tatest du – fressen und schlafen mit dem Menschenpack?«

      »Wäret ihr gekommen, als ich rief, wäre das nie geschehen«, antwortete Mogli und lief nun immer schneller.

      »Und – was jetzt?« Graubruder sah ihn fragend an.

      Mogli wollte erwidern, als ein Mädchen in weißen Gewändern den Pfad herabgeschritten kam, der zum Dorf führte. Graubruder verschwand augenblicklich außer Sicht, und Mogli trat geräuschlos in ein Feld voll hochstehender Ähren. Fast hätte er das Mädchen mit den Händen berühren können, als die warmen grünen Halme sich hinter ihm schlossen. Wie ein Geist löste er sich auf in der Dunkelheit. Das Mädchen schrie auf, denn sie vermeinte einen Nachtspuk zu sehen, dann seufzte sie tief. Mogli bog die Ähren auseinander und sah ihr sinnend nach, bis sie verschwunden war.

      »Jetzt weiß ich noch immer nicht«, sagte er und seufzte nun ebenfalls, »warum ihr eigentlich kamt?«

      »Wir folgen dir, wir folgen dir«, murmelte Graubruder, Moglis Füße leckend. »Immer folgen wir dir, außer in der Zeit der ›Neuen Rede‹.«

      »Auch zum Menschenvolk?«

      »Folgte ich dir nicht in jener Nacht, als unser altes Pack dich ausstieß? Wer weckte dich, als du zwischen Ähren lagst?«

      »Ja, aber wiederum?«

      »Folgte ich dir nicht auch heute nacht?«

      »Ja, aber wieder und wieder und vielleicht immer wieder, Graubruder.«

      Nun verstimmte Graubruder. Dann knurrte er vor sich hin: »Wahrheit sprach der Schwarze.«

      »Und was sagte er?«

      »Mensch geht am Ende zu Mensch. Raschka, unsere Mutter, sagte –«

      »So auch sprach Akela in der Rothundnacht«, murrte Mogli.

      »So sprach auch Kaa, der weiser ist als wir alle.«

      »Was sagtest du, Graubruder?«

      »Einst stießen sie dich aus mit böser Rede. Mit Steinen zerrissen sie deinen Mund. Buldeo schickten sie aus, dich zu töten. In die rote Blume wollten sie dich werfen. Du, nicht ich, sagtest, sie wären böse und hätten keinen Verstand. Du, nicht ich, ließest die Dschungel über sie kommen, Du, nicht ich, sangest Gesänge gegen sie, die bitterer waren als unser Sang sogar gegen den Rothund.«

      »Was du sagst, Graubruder, fragte ich!«

      Indes sie redeten, liefen sie ununterbrochen weiter. Graubruder galoppierte eine Weile, ohne zu antworten; dann stieß er zwischen Sprung und Sprung hervor: »Menschenjunges – Meister der Dschungel – Sohn der Raschka – mein Lagerbruder – wenn ich auch in der Frühlingszeit einmal vergeßlich bin: Deine Fährte ist meine Fährte, dein Todeskampf mein Todeskampf. Ich spreche auch für die drei. Aber was willst du der Dschungel sagen?«

      »Gut gedacht ist das. Zwischen Sehen und Töten soll man nicht lange zaudern. Eile voraus, rufe alle zum Rätefelsen, denn verkünden will ich ihnen, was in meinem Wanst ist. Aber kommen werden sie kaum – in der Zeit der ›Neuen Rede‹ vergessen sie mich immer.«

      »Hast du denn nichts vergessen?« schnappte Graubruder über die Schulter zurück, als er voranlief. Nachdenklich folgte Mogli.

      Zu jeder anderen Zeit würde bei dieser Nachricht die ganze Dschungel mit gesträubtem Nackenhaar herbeigeeilt sein; aber jetzt waren sie beschäftigt mit Jagen, Kämpfen, Schlagen und Singen; von einem zum anderen lief Graubruder und rief: »Der Meister der Dschungel kehrt heim zu den Menschen! Kommt zum Rätefelsen!« Aber die glücklichen, eifrig beschäftigten Völker antworteten nur: »In der Sommerhitze wird er zu uns zurückkehren. Die Regen werden ihn zum Lager treiben. Laufe und singe mit uns, Graubruder!«

      »Aber der Meister der Dschungel geht zum Menschenvolke«, rief Graubruder.

      »Iha – yoawa? Ist die Zeit der ›Neuen Rede‹ deshalb weniger süß?« antworteten sie.

      Als nun Mogli schweren Herzens durch wohlbekanntes Felsgeklüft zum Rätefelsen hinanstieg, allwo man ihn einst aufnahm in den Rat, fand er dort nur die vier, den alten, fast blinden Balu und den schweren, kaltblütigen Kaa, der auf dem hohen Sitz Akelas geringelt lag.

      »Endet also deine Fährte hier, Mannling?« sprach Kaa, als Mogli sich niederwarf und sein Gesicht mit den Händen verdeckte. »Rufe deinen Ruf: Du und ich vom gleichen Blut – Mensch und Schlange.«

      »Warum wurde ich nicht von den Dolen zerrissen!« stöhnte der Knabe. »Von mir wich meine Kraft, aber das Gift tat es nicht. Tag und Nacht vernehme ich doppelten Schritt auf meiner Fährte. Wende ich den Kopf, so ist es, als ob sich einer im gleichen Augenblick vor mir versteckte. Hinter den Bäumen suche ich ihn, aber er ist nicht da. Ich rufe, und keiner ruft zurück; dennoch ist es, als ob einer lauschte und mit der Antwort zögerte. Ich lege mich nieder, aber finde keine Ruhe. Ich laufe den Frühlingslauf, aber er macht mich nicht froh. Ich bade, aber finde keine Kühlung. Das Töten macht mich krank, aber zum Kämpfen fehlt mir das Herz, und ich schlage nur, wenn ich Nahrung brauche. Die rote Blume sitzt mir im Körper. Wasser kreist mir in den Knochen und – ich weiß nicht, was ich weiß.«

      »Was bedarf es noch der Rede?« begann Balu langsam und wandte den Kopf nach Mogli. »Der sterbende Akela am Fluß sagte es, Mogli würde Mogli treiben zum Menschenpack. Ich sagte es. Aber wer hört jetzt auf Balu? Baghira, wo ist Baghira in dieser Nacht? Auch er weiß. Es ist Gesetz.«

      »Mannling, als wir uns in ›Cold Lairs‹ zuerst trafen, wußte ich es«, sagte Kaa und wand sich ein wenig in seinen mächtigen Ringen. »Mensch geht zu Mensch am Ende, auch wenn die Dschungel ihn nicht verstößt.«

      Die vier sahen sich an, dann blickten sie auf Mogli, verlegen, doch gehorsam.

      »Die Dschungel stößt mich also nicht aus?« stammelte Mogli.

      Graubruder