So rannte er, jauchzte manchmal oder sang vor sich hin, in dieser Nacht das glücklichste Geschöpf in der ganzen Dschungel, bis der Geruch der Blumen die Nähe der Moräste ankündigte; diese lagen weiter entfernt als seine fernsten Jagdgründe.
Hier wieder wäre ein unter seinesgleichen aufgewachsener Mensch schon nach drei Schritten bis über den Kopf versunken. Moglis Füße jedoch schienen Augen zu haben, denn wohlbehalten trugen sie ihn von Scholle zu Scholle, von einem glitschigen Klumpen zum anderen, ohne seiner Augen im Kopf zu bedürfen. Er drang bis zur Mitte des Moores vor, scheuchte Entenvölker auf und setzte sich auf einen moosbedeckten Baumstamm, der halb im schlammigen Wasser schlappte. Rings um ihn her war Leben in den Mooren; nur leicht ist im Frühling der Schlaf der Vogelvölker, und ganze Züge kamen und gingen durch die Nacht. Unbeachtet blieb Mogli im hohen Ried, summte Gesänge ohne Worte und untersuchte die Sohlen seiner harten braunen Füße nach eingedrungenen Dornen. Alle Schwermut schien er in seiner eigenen fernen Dschungel gelassen zu haben, er war gerade im Begriff, ein neues Lied mit voller Kehle anzustimmen – da überfiel ihn wieder der unerklärliche Gram, zehnmal stärker als zuvor.
Diesmal bekam Mogli Angst: »Hier ist er auch«, sagte er halblaut. »Er ist mir gefolgt.« Und er blickte scheu über seine Schulter rückwärts, um zu sehen, ob dieser »er« etwa hinter ihm stände. »Niemand ist hier.«
Weiter raunten die Nachtgeräusche in den Mooren, aber weder Vogel noch ein anderes Tier sprach zu ihm, und das neue Gramgefühl schien ins unendliche zu wachsen.
»Sicherlich habe ich Gift gegessen«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Furcht. »Aus Versehen muß ich es geschluckt haben, denn meine Stärke verläßt mich. Ich habe mich gefürchtet, und doch war ich es nicht, der sich fürchtete« – Mogli hatte Angst gehabt, als die beiden Wölfe miteinander kämpften. »Akela, ja selbst Phao würden sie zur Ruhe gebracht haben, aber Mogli fürchtete sich! Sicherstes Zeichen dafür, daß ich Gift geschluckt habe. Aber was fragen die in der Dschungel danach? Sie singen, heulen und laufen in Rudeln unter dem Mond, und ich – o weh! – muß sterben in den Morästen, an dem Gift, das mir im Leibe sitzt.«
Er tat sich selbst so leid, daß er am liebsten laut geweint hätte.
»Und nachher«, klagte er weiter, »werden sie mich hier finden in dem schwarzen Wasser. Nein, ich will doch lieber heimkehren nach meiner Dschungel, um auf dem Rätefelsen zu sterben. Baghira, den ich liebe – wenn er nicht singend durch das Tal rennt –, Baghira wird vielleicht Totenwacht halten bei meiner Leiche, damit Tschil nicht mit mir tut, wie er mit Akela getan hat.«
Eine dicke warme Träne fiel ihm aufs Knie, und elend, wie Mogli war, fühlte er sich doch wieder glücklich, daß ihm so elend zumute war – wenn euch diese auf den Kopf gestellte Glückseligkeit bekannt ist. »Als Tschil, der Geier, Akela aufzehrte«, wiederholte er, »errettete ich in derselben Nacht das Pack von den roten Hunden.« Er schwieg und dachte eine Weile an die letzten Worte des Einsiedelwolfes, deren ihr euch wohl entsinnt. »Viel Unsinn redete Akela zu mir, bevor er starb, denn wenn wir sterben, dann ändert sich in uns der Wanst. Er sagte... aber dennoch, ich bin von der Dschungel!«
Mogli dachte an die Schlacht am Waingungastrande, und vor Erregung schrie er die letzten Gedanken so laut in die Nacht hinein, daß eine wilde Büffelkuh im Schilf aufsprang und schnaubte: »Ein Mensch!«
»Uuh!« brummte Mysa, der wilde Büffel (Mogli hörte, wie er sich im Schlamm wälzte), »das ist nicht Mensch, nur der haarlose Wolf vom Sionipack ist es. Hin und her rennt er in solchen Nächten.«
»Umh!« machte die Kuh und senkte den Kopf, um weiter zu grasen. »Ich hielt ihn für einen Menschen.«
»Nein, sage ich! He! Mogli, ist Gefahr im Anzuge?« brummte Mysa.
»He! Mogli, ist Gefahr im Anzuge?« gab der Knabe spottend zurück. »Das ist alles, woran Mysa denkt, ob Gefahr ist. Aber Mogli, der Tag und Nacht durch die Dschungel wechselt und für euch beide wacht, was kümmert euch Mogli?«
»Wie laut er brüllt«, sagte die Kuh.
»So schreien sie«, antwortete Mysa verächtlich, »die Gras ausreißen und es nicht fressen können.«
»Für weniger als dies«, stöhnte Mogli, »für weniger als dies hätte ich dich noch in der letzten Regenzeit aus dem Schlamm aufgestachelt und mit einem Binsenzaum durch den Sumpf geritten.« Müde griff er mit der Hand nach einer faserigen Binse, ließ sie aber seufzend wieder sinken. Ruhig fuhr Mysa mit dem Wiederkäuen fort.
»Hier sterben, das will ich nicht!« rief Mogli zornig. »Mysa würde mich sehen, der von gleichem Blut ist mit Tschakala und dem Schwein. Von den Morästen will ich jetzt fort und sehen, was kommt. Niemals lief ich einen ähnlichen Frühlingslauf – heiß und kalt auf einmal. Auf, Mogli!«
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich durch das Schilf an Mysa heranzupirschen und ihn von hinten mit der Spitze des Messers zu stechen. Wie eine platzende Granate schoß der riesige, triefende Bulle aus dem Schlamm heraus, und Mogli lachte, daß er sich die Seiten halten mußte.
»Verkünde nun, Mysa, der haarlose Wolf vom Sionipack hat dich einmal gehütet«, rief er.
»Wolf! Du?« schnaubte der Büffel und stampfte wütend den Schlamm. »Die ganze Dschungel weiß, daß du Hüter warst des zahmen Rindviehs, ein Menschenknirps, der drunten bei den Feldern herumschreit. Du willst von der Dschungel sein? Welcher rechte Jäger von der Dschungel würde sich wohl wie eine Schlange zwischen Blutegeln durchschleichen, nur um einen so schlammigen Spaß zu machen und mich vor meiner Kuh zu beschämen? Komm nur auf festen Grund – dann will ich – will ich...« Mysa schäumte vor Wut, er hatte so ziemlich das schlechteste Temperament in der Dschungel.
Mogli sah gelassen dem Schnauben und Stampfen des Bullen zu. Als er mit seiner Stimme den Lärm des Tieres und des spritzenden Schlammes übertönen konnte, rief er: »Welches Menschenvolk lagert hier bei den Morästen, Mysa? Diese Dschungel ist mir fremd.«
»Nordwärts gehe«, brüllte der vergrämte Bulle, denn Mogli hatte ihn ziemlich scharf gestochen. »Ein Spaß war das, wie er ganz für einen nackten Kuhhirten paßt. Am Rande des Moores liegt ein Dorf, geh' hin und erzähle ihnen die Geschichte.«
»Das Menschenvolk liebt keine Dschungelgeschichten; und ich glaube auch nicht, Mysa, daß ein Riß mehr oder weniger in deinem Fell Anlaß zu einer Ratsversammlung ist. Aber ich will gehen und mir das Dorf ansehen. Ruhig nun, Mysa, nicht in jeder