Das Multikat. Urs Rauscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Rauscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847614852
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Pendeln der Arme. Kim stellte sich neben uns und bat uns, die Mützen aufzusetzen.

      Eine Weile war Stille. Dann hörte ich Gesang. Aber es war kein Totengesang, wie man ihn erwartet hätte, kein polyphones Moll, welches hier angestimmt wurde, sondern ein fröhliches Liedchen, das aus vielen Mündern zu einer Hymne der Freude anschwoll. Schon erblickte ich den Chor. Tanzend und springend kam er den Berg herauf. Er bestand nur aus jungen Frauen in weißen Kleidern mit roten Schärpen, rotem Unterrock und schwarzem Kopfschmuck. Die Mädchen hielten sich an den Händen, drehten sich im Kreis, sprangen aneinander vorbei, ohne jedoch dabei als Gruppe zum Stillstand zu kommen. Als sie die Menge sahen, leuchteten ihre Gesichter auf und ihr Gesang, ihr Jauchzen wurde lauter. Bald tanzten sie um den Scheiterhaufen herum, bahnten sich den Weg durch die Trauermenge, badeten in ihr und sangen Angehörigen wie Nachbarn das reinste Frohlocken ins Gesicht. Dann wieder vereinten sie sich und führten einen Wirbeltanz auf

      Stirnrunzelnd fragte ich Kim, was das alles solle.

      Er beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Flaun sin Weiba füa Jubel. Mach viel Spaß. Alle Menschen soll jubel, weil Flau gestobe.“

      „Warum? Hier sind doch alle todtraurig. Die Frau ist tot.“

      „Ja. Aba Buddha sag, Tod nix schlimm, veasteh?“

      „Ich verstehe gar nichts.“

      Ungeduldig sah er mich an. „Weiba hia Jubelweiba. Jubel weil Flau wiedageboan als Kind oda Tia oda Baum. Nix tot füa imma.“

      „Sie sollen die Leute aufheitern?“

      „Jaa“, flüsterte er gerade so laut, dass ich ihn durch die zusammengelegten Hände verstehen konnte. „Alle Leut soll sein flöhlich. Klosta hol Jubelweiba aus Thimphu, damit mach gut Beeadigung.“

      Skeptisch blickte ich auf die Menschen, die sich so gar nicht der guten Stimmung der bezahlten Bespaßer ergeben wollten. „Na, dann“, sagte ich, ohne Kim noch einmal anzusehen. Janine verzog ob dieser würdelosen Veranstaltung indigniert das Gesicht. Sie wirkte wie auf dem Sprung, als würde sie jederzeit ins Tal rennen wollen.

      Der Gesang verebbte nicht, aber er brachte auch nicht die erhoffte Wirkung. Dann sah ich eine Traube Mönche den Berg herauf stolzieren, sie führten eine Prozession an. Inmitten der Leute wurde die alte Frau auf einer Bahre getragen. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass sie nackt war. Bei der Leiche eines alten Menschen ist Nacktheit ein äußerst unschöner Anblick, denn der Tod vermag es nicht gerade, den verwelkten Körper wieder ansehnlicher zu machen. Ich wandte den Blick ab, als man die Frau auf den Scheiterhaufen legte. Janine hielt sich die Augen zu. Ein Mönch sprach etwas zu uns Trauergästen, die wir immer noch von den Tanz- und Gesangsprostituierten belästigt wurden. Die übrigen Mönche verbeugten sich erst vor uns, dann vor dem Scheiterhaufen. Ich wandte den Blick um, sah aber nirgends jemanden mit einer Fackel oder wenigstens einem Feuerzeug. Ein unbekanntes Gefühl durchschnitt mir die Brust; etwas Schwarzes.

      Bald standen wir schon eine halbe Stunde in Erwartung des Ereignisses herum, noch immer das gesungene Süßholzraspeln in den Ohren, da fragte ich Kim, wann denn der Scheiterhaufen endlich angezündet würde.

      Er sah mich verständnislos an.

      Ich wiederholte meine Frage. Feuer, Holz, Leiche.

      Entsetzen sprang ihm ins Gesicht. „Nix Feua. Feua heilig. Nix tot Körpa in Feua. Nix tot Körpa in Wassa, nix in Erde, nix in Luff. Alle heilig.“

      „Was? Was meinst du damit, das Feuer ist heilig?“

      „Nix nua Feua. Au Wassa, Luff, Erde.“

      „Die Elemente sind heilig?“

      „Ja. Genau. E-le-men-te. Nix tota Körpa wo heilig.“

      „Ja, aber was passiert dann mit dem Leichnam, Kim?“

      „Vogel komm un Flau esse.“

      „Vögel essen den Leichnam? Das dauert doch ewig.“

      „Gloße Vogel komm. Viel gloße Vogel.“

      „Was für große Vögel?“ Ich hob eine Augenbraue.

      „Vogel, die esse tot Tia.“

      „Meinst du Geier? Gibt es Geier hier?“

      „Ja, Geia. Kim nix weiß Woat, aba Phili weiß Woat.“

      Mir drehte es den Magen um. „Das ist ja widerlich. Und wir sollen dabei zusehen?“

      „Nei.“ Er sah mich belehrend an. „Nix ganz Zeit. Aba warte bis gloß Vogel komm. Dann geh, weil Vogel bessa allein esse.“

      „Wie soll denn der Geier kommen, wenn hier so viele Menschen sind, Kim?“ Ich sah ihn ernst an.

      „Geia Hunga.“ Er rieb sich den Bauch. „Geia komm schnell.“

      Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, deren Bedeutung er nicht verstand. Der Geier kam nicht schnell. Ich wusste zu wenig über den Buddhismus, aber ich meinte einmal über eine Religion gelesen zu haben, deren Anhänger auch ihre Toten von Tieren verzehren ließ. Abartig. Verachtenswert . Abstoßend. Je länger ich hier stand, desto stärker zwang der Leichnam meinen Blick auf sich. Immer wieder musste ich meine Augen zügeln.

      Inzwischen hatten die Jubelweiber wenigstens die Kinder dazu bringen können, ein wenig mehr Lebensfreude zu zeigen als die Erwachsenen. Manche hatten sich den Mädchen angeschlossen und tollten herum, ohne eine Reaktion ihrer Eltern zu provozieren. Es war, als wäre das Gewicht auf aller Herzen um ein paar Gramm leichter geworden. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Horde weiblicher Jahrmarktsgaukler hier völlig deplatziert war. Janine hatte im Stehen den Kopf auf die Brust gelegt, wollte von all dem so wenig wie möglich mitbekommen. Sie war wie um zwanzig Jahre gealtert, machte nicht mehr den Eindruck einer frechen, jungen Verführerin auf mich, sondern den einer Mutter, der man ihr Kind weggenommen hatte. In diesem spätnachmittäglichen Licht konnte die Farbe ihrer Haare genauso gut grau sein, die Schatten in den Lachfalten genau so gut von Altersfurchen geworfen. Und lächerlich war gar kein Ausdruck für das Käppi auf ihrem hübschen Köpfchen.

      Dann ein Aufschrei. Eine Frau hatte etwas über einem Bergkamm erblickt. Bald darauf sah auch ich etwas schweben und fallen, und auch die Menschen um mich herum konnten den massigen Leib und die Spannweite am Horizont allmählich größer werden sehen. Raunen, Gemurmel, Getuschel. Dann plötzlich Stille, als ein Mönch die Hand hob. Kurz darauf ein markerschütterndes Geschrei aus der Kehle des tierischen Leichenfledderers. Es erschallte nochmals, als er flügelschlagend mit den Krallen auf dem Scheiterhaufen Halt suchte. Dann begann er zu picken und zu reißen. Ich nahm Janine an der Hand und ging mit ihr zügig den Berg hinunter. Hinter dem erstbesten Haus erbrachen wir uns.

      Wortlos gingen wir in ihre Wohnung. Nur einmal sagte sie etwas wie alles nur wegen dir. Ich nahm es ihr nicht übel. Sie musste erst wieder klar im Kopf werden. Beide ließen wir uns aufs Bett nieder. Sie sah mich zwar fragend an, warum ich hier blieb und nicht in meine Hütte ging, aber die Ereignisse des Tages hatten sie zu sehr ausgelaugt, um mich hinaus zu schmeißen. Auf einmal war ich hundemüde, ein gähnender Abgrund verschlang mich, aus dem ich mich erst nach einer Stunde ins Wachsein hoch hangelte.

      Janine hatte nicht geschlafen. Wie erstarrt lag sie auf dem Rücken und blickte an die Decke. Sie war nicht mehr die Janine von zuvor, die zähe, forsche Frau, der das Herz auf der Zunge lag. Jetzt war sie ins Straucheln geraten. Ihre Belastbarkeit und Ausdauer waren brutal auf den Prüfstand gestellt worden. Als sie bemerkte, dass ich wach war, sagte sie: „Wir müssen abhauen.“

      Ich betrachtete sie von der Seite, das Profil ihrer kleinen Nase, die Wimpern, die beim Blinzeln winzige Wirbel in die Luft schlugen. „Ja, das müssen wir wohl.“

      „Das ist der Wahnsinn. Wo bin ich hier nur gelandet?“ Sie legte den Kopf zur Seite, um mir ihre Augen zu zeigen.

      „Das frage ich mich auch.“

      „Philipp, was passiert gerade mit uns?“

      „Ich dachte, du wüsstest das.“