Das Multikat. Urs Rauscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Rauscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847614852
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      Über Kims Kopf stand ein imaginäres Fragezeichen.

      „Was ist mit den Kindern, Kim?“

      „Besoffe Kinda?“

      „Wenn du so willst, ja, die meine ich.“

      „Polizei Kinda wegbling, weil Flau gestobe. Muss untersuch Kinda in Thimpu.“

      „Das kann doch nicht wahr sein!“, grummelte ich und sah dabei auf den Boden. Ich butterte mein Gewissen unter wie einen Kopf beim Waterboarding.

      „Familie von Flau will Lache füa Tod. Familie von Kinda muss gebe Flau füa Albeit von andele Familie.“

      „Rache? Mir reicht's mit euren Bräuchen“, schnaubte ich.

      „Phili komm Beeadigung?“ Kim sah mich bittend an.

      „Ich, ähh...“

      „Muss komm, sons nix gut füa Phili in Stadt. Bessa komm.“

      Ich presste die Lippen zusammen. „Meinetwegen. Wann?“

      „In zwei Stunde. Kim hol Phili ab. Un Janine.“

      „In Ordnung. Du findest mich hier.“

      „Jaja, schon weiß. Phili un Janine Liebepaa.“

      „Wir? Ein Liebespaar? Nein, Kim, das geht zu weit! Ich helfe hier nur einer Freundin. Ich bin verheiratet.“

      „Helfe tlinke“, sagte Kim und sah mich mich mit Verschmitztheit an, die für einen Augenblick seine Trauermaske durchbrach. Und leiser, fast flüsternd fügte er an: „Phili veaheilat. Kim veaheilat.“ Dann ging er schweren Schrittes die Treppe hinunter.

      Ich setzte mich zu Janine aufs Bett. Die ungewaschenen Haare hafteten ihr an der Stirn, flachsfarbene Strähnen verteilten sich auf dem Kopfkissen. Ein eigenartiges Aroma ging von ihr aus, ich öffnete das Fenster, um ein frisches Lüftchen hinein zu lassen.

      Als sie erwachte und mich neben sich sitzen sah, erschrak sie, dann aber löste sich ein Lächeln aus ihrer starren Miene.

      „Na, geht’s uns jetzt besser?“, fragte ich.

      „Pff.“ Sie setzte sich im Bett auf und horchte in sich hinein. „Etwas besser, ja. Jetzt könnte ich einen Schnaps gebrauchen.“

      „Nix da. Heute ist eine Beerdigung. Wenigstens da kannst du doch mal nüchtern bleiben.“

      „Als hättest du nicht auch gesoffen, gestern. Und auf einmal bist du hier der Moralapostel?“ Sie kratzte sich am Hinterkopf. „Was hast du gerade gesagt? Beerdigung?“

      Ich erklärte ihr alles, worauf sie mir vor Bestürzung das Kopfkissen an den Schädel warf und mich einen Verbrecher schimpfte. Ich erwiderte, dass, wenn sie nicht mit mir um die Flasche gekämpft hätte, wir es nur mit einem besoffenen Huhn zu tun gehabt hätten, mit einer Notschlachtung, einer Vogelleiche. So aber sei es zu diesem Unfall gekommen, in dessen Folge nun die alte Frau an der Seite ihres geliebten Haustiers bestattet werde. Sie nannte mich einen Zyniker und Unmenschen, erklärte sich nach einer Weile des Zauderns jedoch bereit, mich zu begleiten.

      Nach unserer kräfteraubenden Diskussion nahm sie ein Bad. Sie ließ es sich nicht nehmen, nackt durch die Wohnung zu stolzieren, so als wollte sie immer noch demonstrieren, was ich mir entgehen ließ. Doch von Stunde zu Stunde fühlte ich mich immuner gegen diese Reizattacken auf mein libidinöses Nervensystem. Mochten die Hormone vielleicht kochen, diesmal hielt ich den Deckel drauf. Meine Entschlusskraft ließ mich meine Ziele klarer sehen und jegliche Ablenkung wie ihren saftigen, vollen Leib in einen nebulösen Hintergrund treten. Doch es war nicht die Abkehr vom Alkohol, die mir diese ungewohnte Sichtschärfe verlieh, sondern das Abstreifen von einem anderen, einem älteren Hemmschuh. Ich enthäutete mich einer schlechten Eigenschaft.

      Während sie auf ihrem Bett saß, noch immer halbnackt, und sich mit einem Handtuch die Haare trocken rubbelte, sprachen wir kein Wort. Inzwischen hatte ich wieder Hunger. In einem Schrank fand ich ein paar haltbare Kekse, die sie wohl im Flieger hatte mitgehen lassen, denn es stand KLM darauf. Die Kekse bewirkten eine oberflächliche Sattheit, ohne meinen Geschmackssinn in irgendeiner Weise zu behelligen. In den letzten Wochen hatten sie ihre ohnehin geringe Würze gänzlich verloren. Ein menschlicher Geniestreich, dachte ich, der Natur hingegen gelang es irgendwie nie, nährreiche Früchte ohne jeden Geschmack anzubieten.

      Noch bevor der Hunger erlosch und ich die letzte Zungenladung Keksbrei schluckte, hatte ich einen Geistesblitz. Was hatte ich gerade gelesen? KLM. Soweit ich mich entsinnen konnte, war dies das Kürzel für die Niederländische Königliche Luftfahrtgesellschaft. Hatte ich nicht Janine dabei belauscht, wie sie am Telefon ein astreines Niederländisch sprach? Hatte ich nicht daraufhin gemeint, dass ihr Schweizer Akzent etwas Aufgesetztes an sich hatte? Gleich nach den Beisetzungsfeierlichkeiten würde ich sie zur Rede stellen.

      „Ich hab Hunger“, bemerkte Janine und drehte sich zu mir um.

      „Hier.“ Ich hielt ihr die halbe Kekspackung hin. „Die muss ein holländischer Tourist hiergelassen haben.“

      Sie sah mich aus den Augenwinkeln an und vielleicht hatte sie die Ironie aus meiner Bemerkung herausgehört, denn sie ließ nur ein kleinlautes Ja, wahrscheinlich vernehmen.

      Es dauerte nicht lang und Kim machte sich wieder durch Klopflaute bemerkbar.

      In der Tür erschien sein Betroffenheitsgesicht. Bedrückte, verdüsterte Augen sahen an mir vorbei zu Janine, die sich das Handtuch vor die Brust hielt und sich vom Bett erhoben hatte.

      „Gut Tag, Janine“, sagte er tonlos.

      „Hallo, Kim“, antwortete Janine und schlug die Augen nieder.

      „Ia komm Beeadigung, beide?“

      Ich überließ es Janine, die Antwort zu geben.

      „Gut“, sagte Kim. „Dann nehm das auf Kopf un komm.“ Er reichte uns beiden jeweils eine weiße Mütze, die wir zu einem bestimmten Augenblick der Zeremonie aufsetzen sollten, wie er uns auf der Straße erklärte. Ich hob meine Mütze in Janines Blickfeld und deutete ein belustigtes Grinsen an, aber sie ließ mich spüren, dass sie die Situation alles andere als lustig fand.

      Kim führte uns aus dem Ort hinaus, der wie ausgestorben schien, hinauf auf eine Anhöhe, eine Art hügeligen Vorsprung unterhalb des Bergmassivs, aber einige hundert Meter oberhalb der Ortschaft. Als wir an unserem Ziel ankamen, hatte ich mein Unterhemd schon durchgeschwitzt; Janine schien von ihrem Kater erholt. Ihre körperliche Fitness war ohnehin makellos.

      Was uns erwartete, war bisher ungesehen. Ich schätzte, dass es die gesamte Einwohnerschaft von Tongsa war, die sich hier versammelt hatte. Alle, vom Greis bis zum Säugling, waren in weiß gekleidet. Als man mich erblickte, wurde getuschelt, freundliche Blicke und Gesten wurden mir entgegen gebracht. Ich war der vermeintliche Held; Janine hingegen ignorierte man. Kim war zwar ein Fremder, aber er führte sich auf, als orchestriere er das gesamte Geschehen, als einziger erhob er die Stimme, stellte Fragen und gab Anweisungen. Schließlich wurden wir als eine Art Ehrengäste in die erste Reihe gestellt. Sämtliche Anwesenden wirkten niedergeschlagen, ihre Gesichter erinnerten mich wieder an meine Schuld, aber irgendwie konnte ich nicht anders, als über das Geschehene zu lachen, und als mein innerliches Grinsen nach außen ausschlug und meine Zähne entblößte, tat ich so, als müsste ich gähnen. Von Janine erntete ich dafür einen vernichtenden Blick..

      Keine drei Meter vor uns stand ein Scheiterhaufen. Das windschiefe, wacklige Bauwerk flößte mir Furcht ein. Würde man jetzt die Alte vor unseren Augen verbrennen? Würde das Fleisch in den Flammen erst die Farbe wechseln und dann verbrutzeln, zerschmelzen und verdampfen, und schließlich zu schwarzer Asche zerbröseln und zerfallen? Würde sich die Haut unter der Hitze vom Kopf lösen und sich somit ein Totenkopf aus dem Gesicht der Verstorbenen schälen? Würde der Geruch von brennendem Holz sich mit dem von verglimmendem Stoff und verkohlendem Fleisch vermischen, und so eine Art Weihrauch ergeben, bei dem ich direkt hier, vor der Versammlung, auf den Boden erbrechen müsste? Oder würde es nur eine Ansprache eines Mönchs oder Priesters geben, und wir könnten den Berg