Das Multikat. Urs Rauscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Rauscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847614852
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schluchzte, Kinder zeigten mit offenen Mündern auf das arme Getier. Allen hatte es die Sprache verschlagen, so dass das Wimmern der Frau noch einmal lauter durch die Gassen schallte. Die Szene erschien umso absurder, als direkt neben der Menschentraube mindestens zwanzig quicklebendige Hühner im Staub herum pickten. Als die alte Frau sich aus der Hocke erhob, konnte ich erkennen, dass ihre Hände blutverschmiert waren. Sie hatte in ihrer Trauer ihr liebstes Huhn innigst umarmt. Dann zeigte jemand in meine Richtung. Ich zog den Kopf zurück.

      „Philipp! Weißt du, was du da getan hast?“

      Ich schmunzelte. „Ein Huhn geschlachtet?“

      „Du hast eine Bombe auf die armen Dorfbewohner geworfen!“

      „...und einen fetten Vogel abgeschossen.“ Mein Herz hüpfte vor Belustigung.

      „Sie werden sich rächen.“

      „Die Bhutaniker? Die können doch keinem Tier was zuleide tun.“ Erst jetzt bemerkte ich das Wortspiel. Mein Kater war wie weggeblasen. Die Kraft kam zurück.

      Janine wandte sich angewidert ab. „Du bist ein Ekel.“

      „Jetzt übertreib mal nicht. Es war auch deine Schuld.“

      „Was du gemacht hast, ist Hiroshima“, übertrieb sie.

      „Ach, bla, bla. Ich habe dich gerettet! Das habe ich getan!“

      Sie ging zu ihrem Bett und ließ sich rücklings darauf fallen. Ich wagte noch einmal einen Blick nach draußen. Die Aufräumarbeiten hatten begonnen.

      Dann klopfte es wie wild an der Tür. Ich dachte schon, der Mob habe sich versammelt, mit Heugabeln und Fackeln, und verlange die Herausgabe des Übeltäters. Doch dann erkannte ich die Stimme von Kim. Sein Getrommel wurde immer dringlicher, und bald waren es beide Hände, die gegen das Holz hieben. Janine rührte sich nicht mehr. Folglich ging ich zur Türe und zog sie auf.

      „Ahh. Phili“, sagte Kim erleichtert.

      „Hallo Kim... Ich...“

      „Gut, dass da bis. Blauch Phili, schnell. Blauch Janine, aba Phili bessa. Blauch Aaz.“

      „Einen Arzt? Das Huhn ist tot.“

      „Huhn tot. Tlotzdem blauch Aaz.“

      „Es tut mir leid, was passiert ist, Kim. Ich weiß nicht, wie ich es wieder gut machen kann...“

      „Nix gut mach, Phili. Kinda schull. Wia klieg Kinda von Wohnung obe. Üba Janine Wohnung. Versteh. Kinda weafe Flasche, weil Kinda besoffe. Flasche von Schnaps von Leis.“

      „Ihr habt Kinder festgehalten? Sie sind die Schuldigen?“

      „Ja. Kinda schull. Kinda Gefängnis.“

      „Was?“ Ich traute seinen Worten nicht. „Ihr habt Kinder ins Gefängnis gesteckt?“

      „Sie könn nix bezahl Huhn. Eas wenn Elta bezahl Huhn, Kinda könn geh nach Haus. Jetz Zimma von Polizei. Kleine Gefängnis.“

      „Seid ihr sicher, dass die Kinder besoffen sind?“

      „Ja, weil wenn nix besoffe, nix welfe Flasche.“

      „Ja klar“, gab ich jeglichen Einwand auf. Warum sollten Kinder auch mit Gegenständen, etwa Bällen, werfen?

      So war ich zwar entsetzt über die Vorgehensweise, aber zugleich erleichtert, dass man nicht uns die Schuld zuwies. „Und wie soll ich euch bei der Suche nach einem Arzt helfen, Kim?“

      „Du Aaz, Phili“, sagte er irritiert.

      „Warum braucht ihr überhaupt einen Arzt? Ich bin kein Arzt. Ich bin... ich bin Buchhalter. Dies und das, du weißt schon...“

      „Nei, nei, nei“, bestürmte er mich. Phili Universität Deutschlann. Phili bessa als Aaz von Bhutaan. Aaz füa Flau.“

      Ich erwiderte: „Ich glaube nicht, dass...“ Doch Kim riss mich schon am Arm mit. An der sprachlosen Menschenmenge vorbei, zog er mich ins Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hauses. Ich kam in einen Gang, der feucht roch. Der gestampfte Erdboden strahlte Kühle aus. In einem Hinterzimmer standen einige Leute um ein Bett herum. Durch ihr Flüstern hindurch ließ sich ein leises Jammern und Stöhnen vernehmen. Kim schob zwei Männer beiseite und gab so den Blick frei auf die alte Frau. Ihre Tracht war blutverschmiert, ebenso das Bett, auf dem sie lag. Nun wurde mir klar, dass das viele Blut an ihren Händen nicht vom Huhn stammen konnte. Bei genauerer Betrachtung, zu der man mich händeringend aufforderte, stellte ich fest, dass in ihren Handflächen unzählige Glassplitter staken, teilweise blutete sie immer noch. Ich blickte mich um, alle sahen mich gespannt an. Kim stieß mir in die Rippen. Der Brustkorb der alten Frau bebte, um den Mund herum zitterte sie, die Nasenflügel bewegten sich schnell und unter den geschlossenen Augenlidern schnellten die Augäpfel hin und her. Mir blieb nichts übrig, als die Glassplitter aus ihren Händen zu puhlen. Manchmal schnitt ich mich dabei, aber nur leicht. Die alte Frau stöhnte von Mal zu Mal vor Schmerzen, dann wieder seufzte sie vor Erleichterung. Noch immer ging ihre Atmung schnell. Man konnte ihr Herz rasen hören, während die Herzen der Umstehenden innegehalten hatten und ihrer aller Atmung für die gesamte Dauer der Operation auszusetzen schien. In ihrer unendlichen Trauer musste sie den von den Schrapnellen der flaschenförmigen Mörsergranate getroffenen Leib des Huhns geknetet haben, ansonsten ließ sich diese Fülle an Scherben in ihren Handflächen und Fingerkuppen nicht erklären. Erst nach etwa einer Viertelstunde war ich mit meinem Chirurgenwerk fertig. Sobald ich den letzten Splitter herausgezogen hatte, machte die Greisin einen Seufzer der Erleichterung und ihr Beben und Zittern ließ nach. Sie schien sofort in eine Art Starre gefallen zu sein.

      Kim umarmte mich vor Freude. Die Angehörigen und Bekannten der Patientin taten es ihm nach. Ein junges Mädchen mit rabenschwarzem Haar sah mich bewundernd an, als es die Hände verband, nachdem ich diese mit Reisschnaps desinfiziert hatte.

      Ich kehrte zu Janines Wohnung zurück und klopfte sie aus dem Schlaf, in den sie in Ermangelung an alkoholischem Treibstoff gesunken war. Sie sah nicht glücklich aus. Allmählich wurde der Griff kräftiger, in den sie ihr Kater genommen hatte. Sie fasste sich an die Stirn und ich brachte ihr ein Glas Wasser, bald ein weiteres. Kalter Schweiß zeigte sich unter ihrem Haaransatz. Sie, die keine Kraft mehr hatte, sich eine Flasche zu holen, bat mich nochmals, ihr ein Antiserum zu besorgen, aber ich lehnte ab. Also fiel sie auf ihr Kopfkissen zurück und ergab sich den Qualen des Entzugs. Ich fragte mich, bei wem ich nun die Hausbesuche fortsetzen sollte. Ich kam mir vor wie der Protagonist eines Schundromans mit dem Titel Der Landarzt von Bhutan.

      Kurze Zeit später klopfte es wieder. Abermals war es Kim. Ich erwartete ein dankbares Lächeln, eine Aufforderung zum gemeinsamen Essen, zur Feier, wenigstens die Meldung, dass man die Kinder freigelassen hatten, aber was mir entgegenschlug, war eine Grimasse brunnentiefer Trauer. „Was ist, Kim?“, fragte ich ihn.

      „Ohh. Nix gut Tag. Alt Flau tot.“

      „Wie?“

      „Flau Phili opalia tot. Nix mea lebe.“

      „Was?“ Ich hatte Mühe, die Nachricht zu begreifen.

      „Flau gestobe vol Schleck.“

      „Schreck? Du meinst, ihr Organismus hat versagt?“

      „Heaz geh aus, weil Schleck von Unglück.“

      „Ein Herzinfarkt?“

      „Ja. Kim nix finde Woat. Aba Phili finde Woat.“

      Ich bekam weiche Knie und musste mich setzen.

      „Phili okay?“, fragte Kim in eifriger Anteilnahme.

      „Es geht schon, danke“, sagte ich. Dann schüttelte ich den Kopf. „Sie hatte also einen Herzstillstand“, nahm ich niedergeschmettert Notiz von der Katastrophe, die ich verschuldet hatte.

      „Heut Beeadigung.“

      „Heute noch? Warum habt ihr es so eilig?“

      „Blauch in Bhutaan. Schnell Beeadigung.“

      Ich